Politik

Asylrecht-Talk bei Anne Will "Dieses Abkommen wird das Sterben nicht verhindern"

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Jens Spahn muss Talkshow-Moderatorin Anne Will die Frage beantworten, warum die Union nicht schon früher ein Abkommen hinbekommen hat.

Jens Spahn muss Talkshow-Moderatorin Anne Will die Frage beantworten, warum die Union nicht schon früher ein Abkommen hinbekommen hat.

(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)

Verschärfte Regeln und schnellere Verfahren, aber ist die Reform des EU-Asylsystems tatsächlich der große Schritt nach vorn? Die Diskussionsrunde bei "Anne Will" war sich erwartungsgemäß uneins, besonders Jens Spahn und Omid Nouripur gerieten aneinander.

Die Frage, die Anne Will im Titel der Sendung stellte, wurde im Grunde genommen gleich mit dem ersten Wortbeitrag beantwortet. Ein Grund zur Freude war das eher nicht. Franziska Grillmeier ist freie Journalistin, seit Jahren beschäftigt sie sich in ihrer Arbeit mit der europäischen Migrationspolitik und den Folgen, ihr Buch "Die Insel - Ein Bericht vom Ausnahmezustand an den Rändern Europas" ist kürzlich erschienen. Grillmeier weiß, wovon sie schreibt: Zurzeit lebt sie auf Lesbos. Die Asylrecht-Reform, nach der Flüchtlinge an der EU-Außengrenze festgesetzt und binnen 12 Wochen bescheidet werden sollen, ein Schritt in die richtige Richtung?

"Das Ganze hat kaum etwas mit der Realität vor Ort zu tun", so Grillmeier. "Es ist kein großer Paradigmenwechsel, im Gegenteil." Die Situation sei für sich vergleichbar mit Inhaftierung, die Camps seien "ein Gürtel der Gewalt." Jens Spahn, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU im Bundestag, störte sich da vor allem an der Begrifflichkeit, im Besonderen an einem Wort. "Es ist keine Haft", so Spahn. "Die Menschen können nicht in der EU weiterreisen, aber durchaus in ihre Herkunftsländer zurückkehren."

Wenn es denn so einfach wäre …

Das Ganze sei kein historischer Erfolg, konstatierte denn auch Omid Nouripour, Parteivorsitzender Bündnis 90/Die Grünen, dessen Partei sich intern einer Renaissance der Realo/Fundi-Grabenkämpfe gegenüber sieht. Während etwa Nouripour oder auch Annalena Baerbock den Beschluss als ersten kleinen Schritt begrüßen, sieht Co-Parteichefin Ricarda Lang die Reform mehr als kritisch. Besonders der Punkt, dass Frauen und Kinder eben nicht, wie ursprünglich u.a. von Deutschland gefordert, von der Reform ausgenommen sind, sorgt parteiintern für Aufruhr. "Ich verstehe meine Leute, die darüber erschüttert sind", räumte Nouripour ein, fügte aber hinzu, dass diese Schritte, und seien sie noch so klein, nötig seien, um überhaupt weitere folgen zu lassen.

Während die SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken, wie Jens Spahn auch, das Ganze als wichtigen Schritt auf europäischer Ebene einordnete, bot Ruud Koopmans, Professor für Soziologie und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität, eine klare pragmatische Perspektive auf. Es müsse über festgelegte Kontingente gehen, momentan sei man viel zu sehr mit Leuten beschäftigt, "die spontan kommen".

Der Status Quo sei nicht hinnehmbar, die Situation ist blutig und tödlich, Menschen würden auf der Flucht beraubt, vergewaltigt, versklavt. Man müsse "die Anreize dafür wegnehmen, dass diese Menschen sich überhaupt auf den Weg machen." In Bezug auf einen Paragrafen, der Transitstaaten von einer Asylregelung und Rückführung ausschließt, kommentierte Koopmans: "Ich bin froh, dass Frau Faeser damit nicht durchgekommen ist."

Sahara womöglich noch tödlicher als Mittelmeer

Jens Spahn forderte die Runde schließlich auf, mal "einen Schritt zurückzutreten", um festzustellen, dass es hier um die Grenze des Machbaren geht. Integration brauche Ressourcen, und die seien, was Schulen, Kitas, Wohnraum angeht, erreicht. Überhaupt herrsche bei den Asylbewerbern vornehmlich das Gesetz des Stärkeren: "Es kommen vornehmlich junge Männer", das könne nicht im Sinne einer feministischen Regierung sein. Das war dann der Moment, an dem Omid Nouripour fast losgeprustet hätte: "Dass Sie das erste Mal das Wort Feminismus verwenden, ist ein echter Fortschritt".

Überhaupt beharkten sich Spahn und Nouripour ein ums andere Mal, fielen einander ins Wort. "Ich wäre froh, wenn ich einmal zu Ende sprechen dürfe", so Nouripour an einer Stelle. "Wenn Sie richtig zitieren, gerne", konterte Spahn. Ein Umstand, der auch auf die Kommunikation mit Anne Will überschlug, die stellenweise ihren Ton etwas anschärfen musste, um die Fronten im Zaum zu halten. Zumindest für Omid Nouripour waren die Autoritätsverhältnisse klar: "Sie sind die Chefin!", gab er im Schlagabtausch mit der Gastgeberin schmunzelnd klein bei.

Mehr zum Thema

Am Tag hatte sich EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen, begleitet von Italiens Regierungschefin Meloni und dem niederländischen Ministerpräsidenten Rutte, in Tunis mit Präsident Saied getroffen, um über ein millionenschweres Flüchtlingsabkommen zu verhandeln. Ein Vorgang, der ebenfalls unterschiedlich bewertet wurde. Für Koopmans und Esken etwa eine notwendige Maßnahme, Nouripour sah das Ganze mit Blick auf Tunesiens "Weg in eine Diktatur" eher kritisch. Er habe Zweifel, dass Menschenrechte dort eingehalten werden.

Womit man fast wieder bei Franziska Grillmeier war, die zuletzt auch im Niger recherchiert hat und zu berichten wusste, dass der Fluchtweg durch die Sahara womöglich noch tödlicher sei, als der durchs Mittelmeer. Viele der Toten seien, im Gegensatz zur Meeresroute, schlichtweg nicht dokumentiert. Zudem sei die Arbeit für Journalisten nach dem Brand des Flüchtlingslagers in Moria erheblich erschwert worden, Repressalien und Bedrohung hätten massiv zugenommen. Ihr Fazit: "Das Abkommen wird das Sterben nicht verhindern."

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen