Politik

Wie geht es in Israel weiter? "Ein Schock für uns alle"

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Uriel Kashi lebt in Jerusalem.

Uriel Kashi lebt in Jerusalem.

(Foto: AP)

Der Angriff der Hamas erschüttert Israel. Der Tag brenne sich in das kollektive Gedächtnis ein, sagt Uriel Kashi ntv.de. Im Interview spricht der Jerusalemer Historiker über ein tief getroffenes Land, die Ursachen des Überfalls und die Antwort Israels.

ntv.de: Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie?

Uriel Kashi: Der gestrige Tag begann mit einem großen Schock für uns alle. Wie viele Israelis wurden wir geweckt durch einen Raketenalarm. Dann haben wir schnell die Nachrichten gecheckt und erfahren, dass es sich nicht nur um einen Raketenangriff aus dem Gazastreifen handelt, sondern dass Terroristen der Hamas und des islamischen Dschihad nach Israel eingedrungen sind. Das Ausmaß dieses Angriffs - mit Geiselnahmen, der wahllosen Ermordung von Familien, der Übernahme einer Polizeistation und Militärbasis - das sind alles Ausmaße, die man sich nicht hatte ausmalen können, dass so etwas möglich ist.

Was haben Sie gedacht, als Sie diese Nachrichten hörten und die Bilder sahen?

Zunächst denkt man an die Freunde und Familien, die direkt am Gazastreifen leben. Wir in Jerusalem hatten am Vormittag einige Raketenangriffe und sind dann in den Bunker gegangen, den wir im Haus im Keller haben. Aber uns ist nichts passiert. Ein Freund aus Jerusalem erzählte mir aber gerade, dass hundert Meter entfernt von ihm eine Rakete in ein Wohnhaus eingeschlagen ist. Ein anderer Freund, der in der Nähe vom Gazastreifen wohnt, war den ganzen Tag mit seiner Familie im Bunker. Die Terroristen hatten seinen Kibbuz praktisch übernommen. Die Armee hat sehr, sehr lange gebraucht, um dorthin zu kommen und den Kibbuz zu befreien. Ein dritter Freund aus einem Kibbuz hat sich eben gemeldet. Er schrieb mir, dass er erst heute Nacht unter Beschuss in Sicherheit gebracht worden sei - Leichen würden auf den Straßen liegen, viele seiner Freunde seien entweder tot, verletzt oder von Terroristen verschleppt.

Der Vergleich zum 11. September wird laut, als Terroranschläge die USA ins Mark getroffen haben...

So wie jeder weiß, wo er war, als er von Anschlägen erfuhr, hat sich der gestrige Tag in das kollektive Gedächtnis Israels eingebrannt. Doch der Vergleich, der hier öfter gezogen wird, ist der Jom-Kippur-Krieg 1973. Der Angriff kam ähnlich überraschend, und die Sicherheitskräfte und die Regierung waren über einen langen Zeitraum völlig überfordert, bis die Situation zumindest ansatzweise wieder unter Kontrolle war.

Auf den Tag vor 50 Jahren begann dieser Krieg, bei dem mehrere arabische Staaten Israel überfielen. Warum hat die Hamas diesen Zeitpunkt für ihre Attacken gewählt?

Der Zeitpunkt ist für die Terroristen günstig gewesen. Israel steckt in einer tiefen Krise. Die Regierung, die in Teilen rechtsextrem ist, versucht, die Macht der Justiz zu beschneiden und die Demokratie abzubauen. Sie schlägt sich mit Korruptionsskandalen herum. Es gibt eine sehr starke Opposition mit Massendemonstrationen, an denen sich auch Soldaten beteiligen. Das wird von der Hamas und der Hisbollah im Libanon als Schwächung Israels interpretiert - nicht ganz zu Unrecht.

Und jetzt rücken die Israelis enger zusammen?

Ja. Bei einer solchen Attacke muss man die politischen Differenzen beiseiteschieben und die Lage in den Griff bekommen. Soldaten, Frauen und Kinder befinden sich in der Gewalt von Terroristen im Gazastreifen. Das wichtigste Ziel ist, diese Menschen wieder nach Hause zu holen.

Der Jom-Kippur-Krieg führte zu einem heftigen Gegenschlag der israelischen Armee und endete in einer Niederlage der Angreifer. Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu kündigte an, die Verstecke der Hamas in Gaza in "Trümmer" zu legen. Er spricht von der "Stadt des Bösen" und fordert deren Einwohner auf, zu fliehen. Das klingt nach massiver Vergeltung.

Jetzt sind viele radikale, populistische Phrasen zu hören. Das Ziel der israelischen Regierung wird nicht sein, Gaza zu zerstören. Worüber wirklich diskutiert wird, ist die Frage der Entmachtung der Hamas. Bislang wurde inoffiziell über Vermittler mit ihr gesprochen. Aber wegen des äußerst brutalen Vorgehens, das an die radikalislamische IS und an Al Kaida erinnert, stellt sich die Frage, ob die Hamas nicht so sehr geschwächt werden müsse, damit sie ihre Macht im Gazastreifen verliert.

Gibt es überhaupt einen Ausweg aus diesem Konflikt?

Der Historiker Uriel Kashi lebt in Jerusalem und arbeitet als Referent und Reiseleiter. Er organisiert und begleitet u.a. politische Studienreisen für Stiftungen, Universitäten und Journalistengruppen durch Israel.

Der Historiker Uriel Kashi lebt in Jerusalem und arbeitet als Referent und Reiseleiter. Er organisiert und begleitet u.a. politische Studienreisen für Stiftungen, Universitäten und Journalistengruppen durch Israel.

(Foto: Privat)

Das Grundgefühl in Israel ist, dass mit der Hamas kein Abkommen geschlossen werden kann. Das ist vorbei. Die Regierung, die bis Dezember vergangenen Jahres im Amt war, hat versucht, die moderaten Kräfte im Gazastreifen zu stärken. Ein Beispiel: Mehr als 20.000 Palästinenser bekamen eine Arbeitserlaubnis für Israel. Der Gedanke dahinter: Wenn Israel den Konflikt nicht beenden kann, dann sollte man zumindest versuchen, die Lebensbedingungen der Menschen in Gaza verbessern. Und: Wer etwas zu verlieren hat, wird keinen Krieg mit Israel beginnen. Heute scheint eher: Die Hamas ist eine ideologische Organisation. Sie hasst den Westen und verfolgt eine fundamentalistisch-radikale Interpretation des Islam.

Israelischen Regierungen wird vorgeworfen, durch die Abschottung Gazas den Hass auf Israel zu befördern...

Ja, die Siedlungspolitik und die Sicherheitspolitik Israels kann man kritisieren. Aber die Brutalität und die Grausamkeiten der Hamas sind dadurch in keiner Weise gerechtfertigt.

Besteht die Gefahr, dass sich der Konflikt ausweitet und die vom Iran unterstützte Hisbollah aus dem Libanon Israel angreift?

Es gab in der Nacht Angriffe mit Granaten aus dem Libanon und Gegenschläge der israelischen Armee. Hier wird schon lange darüber gesprochen, ob Hisbollah und Hamas gemeinsam versuchen werden, Israel in einen Zweifrontenkrieg hineinzuziehen. Die Hisbollah schaut sehr genau hin, wie Israel auf den Angriff reagiert. Das ist einer der Gründe, warum die israelische Regierung hart gegen die Hamas vorgehen wird. Es geht um Abschreckung.

Verhärtet sich das Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern immer weiter - oder gibt es Hoffnung, dass sich in Zukunft eine Lösung abzeichnet?

In den 90er-Jahren gab es ja Friedensverhandlungen, die durch zahlreiche gemeinsame Projekte, Dialoggruppen begleitet wurden. Es gab viel mehr Austausch zwischen den Seiten. Die Verhandlungen sind leider gescheitert - dafür tragen beide Seiten eine Mitschuld. Die Menschen, die damals in diesen Projekten aktiv waren, halten eine Lösung des Konflikts eher für möglich. Sie haben die jeweils andere Seite als Menschen kennengelernt. Aber nach dem Terror der zweiten Intifada errichtete Israel aus Sicherheitsgründen zunehmend Grenzanlagen, die aber auch dazu führten, dass die Menschen voneinander getrennt wurden. Private Kontakte - wie sie auch zwischen den Bewohnern des Gazastreifens und den umliegenden israelischen Dörfern bestanden - gingen verloren. Resultat dieser Entwicklung: Je weniger Kontakt man miteinander hat, desto mehr verfestigen sich die Feindbilder.

Mit Uriel Kashi sprach Jan Gänger

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen