Politik

Generalmajor zur Großoffensive "Eine neue Qualität des Kampfes steht bevor"

Die russischen Truppen werden derzeit in Belgorod neu aufgestellt (Foto von der russischen Staatsagentur Tass zur Verfügung gestellt).

Die russischen Truppen werden derzeit in Belgorod neu aufgestellt (Foto von der russischen Staatsagentur Tass zur Verfügung gestellt).

(Foto: picture alliance/dpa/TASS)

Seit Wochen wird mit einem russischen Großangriff auf die Ostukraine gerechnet. Doch die Mobilisierung der Truppen ist noch immer nicht abgeschlossen. Das könnte sich nun mit dem neuen Oberbefehlshaber der russischen Armee ändern. Die größte Herausforderung ist aber immer noch der "hochwertige Widerstand", den die Ukrainer leisten, sagt der österreichische Generalmajor Günter Hofbauer im Interview mit ntv.de.

Seit zwei Wochen werden immer wieder Warnungen vor einem angeblich unmittelbar bevorstehenden Großangriff Russlands auf die Ostukraine ausgesprochen. Trotzdem hat bisher kein Angriff stattgefunden. Warum?

Günter Hofbauer ist Generalmajor des österreichischen Bundesheeres.

Günter Hofbauer ist Generalmajor des österreichischen Bundesheeres.

Die russische Seite sammelt derzeit ihre Kräfte. Die aktuelle Drehscheibe ist Belgorod. Dort werden die neuen Kräfte zusammengeführt und für den Angriff bereitgestellt. Erstens müssen die aus dem Norden abgezogenen Truppen den langen Weg nach Belgorod zurücklegen. Zweitens haben sie Verluste an Material und Soldaten, die nun aufgefrischt werden. Dazu werden auch neue Kräfte aus den Tiefen des russischen Raums herangezogen. Dies dauert.

Vor welchen Schwierigkeiten steht Russland derzeit bei der Neuausrichtung seiner Streitkräfte im Osten?

Die große Herausforderung ist nach wie vor, dass die Ukraine hochwertigen Widerstand leistet. Die russische Seite ist gezwungen, sich gut auf den Angriff vorzubereiten. Sie müssen Drohnen oder andere Aufklärungsmittel einsetzen, um festzustellen, wo sich die ukrainischen Verteidiger befinden. Dann greifen sie entweder mit Artillerie oder aus der Luft an, um die Verteidiger zu schwächen. Im nächsten Schritt folgen die Bodentruppen und wollen Gelände in Besitz nehmen. Solche Kampfhandlungen dauern sehr lange. Die Angriffsgeschwindigkeit ist in diesem Fall auf einen gewonnenen Geländekilometer pro Stunde begrenzt - höchstens 1,5 Kilometer. Es handelt sich also nicht um schnelle Operationen.

Wird die Ernennung von Alexander Dwornikow zum russischen Oberbefehlshaber im Krieg die Offensive beschleunigen?

Jetzt, da Dwornikow das gesamte Kommando übernommen hat, steht eine neue Qualität des Kampfes bevor. Er ist ein erfahrener General. Das sieht man vor allem an seinen bisherigen Leistungen im Krieg: Er war Befehlshaber im Süden. Dort wurden die größten Erfolge errungen - viel besser als bei den Zielen, die im Norden angegriffen wurden. Wir sehen auch erste Taktiken, die möglicherweise auf ihn zurückgehen: Die vorhin beschriebene Taktik, sich mit Artillerie und Luftunterstützung auf einen Angriff vorzubereiten und Städte einzuschließen, das haben wir auch in Syrien gesehen, wo Dwornikow der Oberbefehlshaber der russischen Operation war.

Doch auch wenn Dwornikow im Süden vielleicht besser vorangekommen ist als im Norden, hat die russische Armee noch immer nicht Mariupol eingenommen. Warum?

Erst hat Russland versucht, die gesamte Stadt auf einmal zu erobern. Das hat nicht funktioniert. Also mussten sich die Angreifer den Weg in die Stadt erkämpfen. Sie haben die Stadt abgeschnitten und jetzt wird Straße für Straße und Wohnblock für Wohnblock gekämpft. In diesem Fall hat die Ukraine einen Vorteil. Denn sie kennen die Stadt besser und können sich vorbereiten. Der Angreifer hingegen hat keine Geländekenntnisse. Und wie man sieht, nutzt die Ukraine dies für sich aus: Die mobilen Infanterieeinheiten nutzten auch unterirdische Verbindungswege, um dort aufzutauchen, wo sie nicht erwartet wurden.

Nach Angaben Kiews wurde das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte mit zwei Neptun-Raketen angegriffen. Das russische Verteidigungsministerium dementiert dies noch. Können Sie schon sagen, ob es wirklich einen Angriff gab oder nicht?

Es ist in der Tat etwas früh, um endgültig zu sagen, was passiert ist. Aber es gibt erste Hinweise darauf, dass es tatsächlich ein ukrainischer Angriff war. Es ist zumindest glaubhaft, dass ein Raketenangriff durchgeführt wurde - die Ukrainer haben diese Raketen in ihrem Bestand. Es gibt auch Hinweise darauf, dass die Schiffsabwehr durch den Einsatz von Drohnen getäuscht worden sei und das Selbstschutzsystem des Schiffes deshalb nicht auf die Neptun-Rakete reagierte. Darüber hinaus dürfte auch das stürmische Wetter die Radartechnik des Schiffes beeinträchtigt haben, sodass es sich nicht rechtzeitig verteidigen konnte.

Hätten die Ukrainer einen solchen Angriff ohne westliche Geheimdienstinformationen über den Standort des Schiffes durchführen können?

Wenn es tatsächlich ein Angriff war, liegt die Wahrheit wahrscheinlich irgendwo in der Mitte. Wir wissen, dass die USA und andere Nationen die Ukraine mit Daten aus ihren Aufklärungsaktivitäten versorgen. Das wird auch offiziell zugegeben. Aber für diesen Angriff wäre das nicht zwingend notwendig gewesen. Denn diese Lenkrakete, die die Ukrainer angeblich eingesetzt haben, hat ein Radarsystem. Sie kann bis zu 300 Kilometer weit fliegen. Sie wird also zunächst in eine Richtung abgefeuert, wo sich das Ziel befindet. Aber im Endanflug sucht die Lenkwaffe mit dem aktiven Radar selbst das Ziel. Exakte Koordinaten des Schiffs zu haben, wäre in diesem Fall nicht notwendig gewesen.

Wenn es tatsächlich ein ukrainischer Angriff war, welche Auswirkungen hat das auf den Verlauf des Krieges?

Wir werden mit Sicherheit Ärger aus Moskau hören. Moskau wird sagen, dass dies nur mit westlicher Unterstützung möglich war. Die Ukraine hat aber immer wieder bewiesen, dass sie etwas aus eigener Kraft schaffen kann. Andererseits wird die russische Seite darauf beharren, dass dies eigentlich gar kein militärischer Anschlag, sondern ein Unfall war. Russland wird seinen Kampf nun auch gegen die ukrainischen Neptun-Raketen verstärken und versuchen, um diese Bedrohung auszuschalten. Es könnte auch einen Angriff auf Odessa vom Meer aus erschweren, wenn Russland weiß, dass die Ukraine über die Fähigkeit verfügt, solche großen Kriegsschiffe zu bekämpfen.

Mit Günter Hofbauer sprach Clara Suchy

Quelle: ntv.de

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