"Kann sich verselbständigen" Ex-General Vad sieht Gefahr der Eskalation
04.03.2022, 14:11 Uhr
Erich Vad ist Brigadegeneral a. D. und Dozent an Universitäten im In- und Ausland.
(Foto: picture alliance/dpa)
Erich Vad, Ex-General und ehemaliger Sicherheitsberater von Angela Merkel, schätzt im Gespräch mit ntv die aktuelle Situation in der Ukraine für das russische Militär als positiv ein. Dass allerdings der kilometerlange Militärkonvoi oft lange nicht von der Stelle kommt, irritiert auch ihn. Erklärungsansätze dafür hat er mehrere. Zudem schätzt Vad die Unterstützung der Ukraine aus Deutschland als notwendig, aber nicht ungefährlich ein.
ntv: Herr Dr. Vad, wie beurteilen Sie die derzeitige Lage?
Erich Vad: Das Gesamtbild ist für die russische Seite durchaus positiv, das darf man nicht verkennen. Im Süden kommt der russische Vormarsch gut voran. Sie stehen jetzt vor Odessa. Sie haben vor zwei Tagen Cherson eingenommen und gehen aus der Krim in Richtung Nordosten über Mariupol in den Donbass. Da ist die Landverbindung hergestellt. Sie ist an einigen Stellen sehr schmal und wird sicherlich verbreitert. Aber im Süden läuft alles nach Plan.
Wie schätzen Sie die langen Phasen ein, in denen der kilometerlange Militärkonvoi auf dem Weg nach Kiew stehenbleibt?
Das irritiert mich sehr. Kiew ist aber dabei, eingeschlossen zu werden. Es gibt bereits Spezialkräfte im Stadtgebiet. Die Russen verfolgen - bezogen auf die großen urbanen Zentren - die Strategie, an den Städten vorbeizustoßen, sie einzuschließen und dann austrocknen zu lassen, wie sie es nennen.
Was bedeutet das konkret?
Es heißt, die Zufuhr von Wasser, Nahrung, Gas, Öl zu unterbinden, damit man Zeit gewinnt. Die Menschen, die es können, fliehen, und die, die bleiben, sind dann nicht mehr bereit zu kämpfen. Das ist das Konzept. Das wird allerdings bei Kiew so nicht gehen. Sie müssen dort die Regierungsgebäude besetzen, den militärischen Generalstab ausschalten, die gesamten Kommunikationsnetze ebenfalls. Der Angriff auf den Fernsehturm war ein Indiz dafür.
Haben Sie denn Mutmaßungen, warum die Kolonne nicht richtig vorankommt?
Es gibt viele Erklärungen dafür. Vielleicht will man abwarten, was Kiew vorhat, sodass man vorsichtig vorgeht. Ich halte das nicht für unwahrscheinlich, weil Orts- und Häuserkampf eine verlustreiche Sache ist. Das muss man sich sehr gut überlegen. Der Widerstand ist auf der ukrainischen Seite. Die Ukrainer kämpfen mit einer hohen Kampfmoral, sind bereit, bis zum Äußersten zu gehen. Wenn man in einem Stadtgebiet auf so einen Gegner stößt, ist das gefährlich für den Angreifer. Er braucht eine zigfache Überlegenheit und der Verteidiger ist im strategischen Vorteil. Selbst aus zerstörten Gebäuden heraus kann er kämpfen. Die Rahmenbedingungen für die Verteidigung einer Stadt sind dadurch günstig, obwohl die Ukrainer zahlenmäßig weit unterlegen sind.
Nun gibt es erneute Forderungen der ukrainischen Seite nach Waffenlieferungen, insbesondere an Deutschland. Könnte die Bundeswehr denn noch mehr liefern? Der Inspekteur des Heeres sagte vor wenigen Tagen, man stünde ziemlich blank da.
Das ist sicherlich insgesamt richtig. Die Bundeswehr-Depots sind leer, seit Jahren. Das ist auch ein Problem der Bundeswehr und für die Bundeswehr. So viel haben wir gar nicht mehr.
Wie beurteilen Sie die Lieferung von Panzer-Luftabwehrraketen des Typs Strela?
Diese alten Systeme aus NVA-Beständen sind durchaus nützlich. Es gibt immer noch Maschinen älteren Datums, mit denen man kämpfen kann. Und Boden-Luft-Raketen sind für einen Verteidiger in der Situation der Ukrainer, gerade wenn sich der Konflikt lange hinzieht, ein ganz gefährliches Mittel. Denken Sie an die Mudschaheddin, die acht Jahre lang gegen die Sowjets in Afghanistan gekämpft haben. Es waren diese Boden-Luft-Raketen der Amerikaner, Stinger, die letztlich das ganze Spiel gedreht haben. Das war ein wesentlicher Grund, weshalb die Russen die Okkupation Afghanistans aufgegeben haben. Also, so ganz ohne sind diese Waffenlieferungen nicht. Sie laufen über die Westukraine auf dem Landweg. Das haben die Russen allerdings erkannt. Man muss abwarten, wie sie damit umgehen. Ob diese Waffenlieferungen in absehbarer Zeit ungehindert die ukrainischen Kämpfer erreichen, das mag ich bezweifeln.
Gleichzeitig sind die Flüchtlingsströme genau in dem Gebiet unterwegs. Die Gefahr, dass am Ende ein Zusammentreffen stattfindet, besteht ...
Das ist richtig. Sie müssen den Westen der Ukraine abriegeln. Aus ihrer Sicht ist das notwendig. Ob sie das selbst machen oder mit Militärkräften von Lukaschenko, ist noch offen. Es ist auch noch offen, wie sie insgesamt mit der Westukraine umgehen. Es ist durchaus denkbar, dass ihre Angriffsspitzen im Raum Kiew eindrehen und auch von Norden und Osten kommen und damit in die Westukraine hineingehen. Ich halte das rein militärisch betrachtet für einen strategischen Fehler, weil die Westukraine ein exzellentes Partisanen-Gebiet ist. Das wäre für den Verteidiger ein immenser Vorteil.
Wie hoch schätzen Sie die Gefahr ein, dass die NATO doch noch unmittelbare Kriegspartei wird? Die Vorwürfe aus Russland lauten schon entsprechend. Könnte das die Gefahr einer Eskalation des Konflikts bergen?
Die Gefahr ist sicherlich da, wir unterstützen die Ukraine politisch und unterstützen sie mit humanitären Hilfsleistungen. Da ist eine Menge in Bewegung. Und wir unterstützen sie mit Waffensystemen. Damit sind wir juristisch noch keine Kriegspartei. Aber das ist natürlich ein Prozess, der in diese Richtung gehen könnte, wenn man ihn politisch nicht genau steuert. Es kann sich schnell verselbstständigen. Und dann kommt es darauf an, dass die Strippenzieher in Brüssel, Washington, auf der westlichen Seite und in Moskau das Ganze so steuern, dass daraus kein dritter Weltkrieg entsteht.
Das Gespräch führte Holger Schmidt-Denker
Quelle: ntv.de