Hohe Verluste und kein Plan B Experte: Russisches Militär könnte bald zusammenbrechen
05.03.2022, 12:50 Uhr
Der russische Militärkonvoi nördlich von Kiew kommt seit Tagen eigentlich nicht voran. Den Grund sieht ein Experte in der Planlosigkeit des russischen Militärs, nachdem der "Blitzkrieg" nicht funktioniert habe.
(Foto: picture alliance/dpa/Maxar Technologies/AP)
Könnte Russland den Kampf gegen die Ukraine tatsächlich verlieren? Für diesen sehr unwahrscheinlichen Fall sehen zwei Experten zumindest erste Anzeichen. Schlechte Planung der Invasion, falsche Annahmen über den eigenen Erfolg und die großen Verluste könnte das russische Militär kollabieren lassen.
Angesichts der Zahl von 150.000 russischen Soldaten, die lange an der Grenze zur Ukraine stationiert gewesen sind und sich mittlerweile fast vollständig auf dem Gebiet das Landes befinden sollen, klingen die Aussagen von Experten höchst unwahrscheinlich, aber: Es gibt erste Stimmen, die von einem nahenden Ende des russischen Militärs sprechen.
Sergej Sumlenny, Osteuropa-Experte und ehemaliger Direktor der Böll-Stiftung in Kiew, schreibt in einem Twitter-Thread, dass es sich ein wenig so anfühle, als könne das russische Militär demnächst zusammenbrechen. Er sagt, dass die Armee offensichtlich keine Reserven mehr besäße. Die Panzer, die zur Front geschickt werden, seien ältere Modelle ohne ausreichende Panzerung. Er meint gar, einige sähen wie Trainingspanzer aus. Zudem konstatiert er, dass es den Russen offenbar an Transportern für ihre Truppen mangele und sie daher auf zivile Fahrzeuge setzen müssten.
Die Einschätzungen sind mit größter Vorsicht zu genießen. Auf dem Papier ist die russische Armee zahlenmäßig und in Sachen Ausstattung der ukrainischen deutlich überlegen. Daran ändern auch die zahlreichen Waffenlieferungen der Amerikaner oder vieler europäischer Staaten in den vergangenen Tagen nichts, noch zumal erst ein kleiner Teil davon tatsächlich in der Ukraine eingetroffen sein dürfte. Zudem ist Sumlenny in seiner Analyse sicher nicht gänzlich objektiv. Allerdings nennt er ein paar Argumente, die zumindest verdeutlichen, dass die Invasion ganz anders verläuft, als sich das die russische Generalität und Präsident Wladimir Putin vorgestellt haben.
Ukraine: 10.000 russische Soldaten gefallen
Als Beleg dafür nennt er etwa die zahlreichen abgeschossenen Flugzeuge und Helikopter seit Kriegsbeginn, vor allem aber der vergangenen Tage. Das zeige, so Sumlenny, dass die ukrainische Luftverteidigung auch am zehnten Tag des Krieges noch funktioniere. Tatsächlich hat das ukrainische Militär die Zahlen russischer Verluste kürzlich aktualisiert und nennt mittlerweile 39 abgeschossene Flugzeuge und 40 Helikopter. Knapp 270 Panzer und viele hundert andere Fahrzeuge und Geschütze sollen die Russen zudem verloren haben. Am schwersten wiegt jedoch sicher die Zahl der getöteten russischen Soldaten. Die gibt das ukrainische Verteidigungsministerium aktuell mit 10.000 an. Die Seite oryxspioenkop.com meldet derzeit hingegen sechs abgeschossene Flugzeuge und acht Helikopter.
Die russische Führung hatte lange bestritten, dass es überhaupt eigene Opfer gibt, vor einigen Tagen dann aber doch knapp 500 getötete und 1600 verletzte Soldaten bestätigt. Christo Grozev, Experte beim Recherche-Netzwerk Bellingcat, sagt in einem Interview mit einer Gruppe internationaler Journalisten, dass die russische Führung nur tatsächlich bestätigte Opfer nennen würde, daher komme sie auf eine vergleichsweise geringe Zahl. Er selbst geht jedoch davon aus, dass bereits vor zwei Tagen sicher 1000 bis 3000 russische Soldaten getötet worden seien. Allerdings habe Bellingcat mittlerweile aufgehört zu zählen, da man den Fokus auf die Analyse von Kriegsverbrechen legen würde, so Grozev.
Wie hoch die Zahl der Verluste an Soldaten und an Material wirklich ist, kann derzeit niemand sicher sagen. Für die Art und Weise, wie sich die russische Militärführung die Invasion vorgestellt hat - Grozev spricht von einer Art "Blitzkrieg" - sind sie aber in jedem Fall hoch. Sumlenny berichtet zudem davon, dass immer öfter russische Offiziere getötet würden. Als Grund nennt er Probleme bei der Kommunikation in der russischen Armee. Aus diesem Grund müssten Offiziere nah an die Frontlinien heran, wo sie fallen.
Russland griff ohne Plan B an
Grozev geht davon aus, dass die Stärke der russischen Armee grundsätzlich überschätzt worden sei. Er glaubt zudem, dass Moskau letztlich überhastet und schlecht vorbereitet angriff. Da Plan A ("Blitzkrieg") nicht von Erfolg gekrönt sei, passiere aktuell wenig, da es keinen Plan B gäbe. Er vermutet, dass dieser aktuell ausgearbeitet wird. Ein Indiz ist der seit Tagen rund 25 Kilometer vor Kiew stehende Konvoi russischer Truppen, der sich nicht bewege. In diesem Konvoi befänden sich allein 400 Panzer, die aktuell untätig sind, so Grozev. Offenbar wird dort auf neue Instruktionen gewartet.
Ähnlich wie Sumlenny sieht Grozev in der Bombardierung von Städten, die in den letzten Tagen deutlich zugenommen hat, kein Zeichen von Stärke, Sumlenny spricht gar von Verzweiflung der Russen, die sich darin zeige. Er sagt etwa, dass Charkiw die russischste Stadt der Ukraine sei. Dort würde viel Russisch gesprochen, man liebe Russland. Und trotz dieser Umstände würde die russische Armee die Stadt derzeit massiv beschießen. Es gehe demnach nicht mehr darum die Ukrainer zu "russifizieren", sondern zu terrorisieren, so Grozev. Die Bevölkerung zeige bisher aber eine große Widerstandsfähigkeit. Russland sei es nicht gelungen, sie einzuschüchtern.
Aktuell gibt es Bilder aus der als erobert geltenden Stadt Cherson, die Hunderte unbewaffnete Einwohner zeigen, die Fahnen schwenkend auf russische Soldaten zugehen und "Haut ab!" skandieren. Auch in Melitopol treten unbewaffnete Bürger einer Gruppe von Soldaten entgegen, woraufhin diese sich zurückziehen.
Ein weiterer Punkt, der das Blatt zugunsten der Ukraine wenden könnte, ist der Zustrom externer Truppen. Die Ukraine hat vor einigen Tagen ganz offiziell dazu aufgerufen, sich einer "Internationalen Freiwilligenlegion" anzuschließen. Angeblich 1000 Menschen sollen sich dieser Truppe bereits angeschlossen haben, insgesamt 16.000 sollen Interesse bekundet haben. Viel wichtiger ist allerdings eine Zahl, die der ukrainische Verteidigungsminister Olexii Resnikow nennt. Nach seinen Angaben sind mittlerweile mehr als 66.000 Ukrainer in ihr Land zurückgekehrt, um dieses zu verteidigen, berichtet er auf Twitter.
Russland schickt noch immer Truppen
Bei allem Erstaunen über das zähe Vorankommen der russischen Offensive und die militärischen Erfolge der als chancenlos geltenden Ukraine, wirken Aussagen über das nahe Ende der russischen Streitkräfte doch sehr verfrüht. Noch immer kosten vor allem die russischen Bombenangriffe jeden Tag zahlreiche Menschenleben aufseiten der Ukrainer. Auch sie verlieren zahlreiches Material, wie sich in einer Übersicht feststellen lässt.
Zudem fahren noch immer Konvois mit russischem Militärgerät von Russland und Belarus in Richtung der ukrainischen Grenze. Und gerade im Osten und im Süden der Ukraine verzeichnen die russischen Truppen weiterhin Erfolge, nehmen mit Cherson sogar eine Großstadt ein und belagern Mariupol. Zudem scheint das Ziel, einen Korridor zwischen der Halbinsel Krim und den Separatistengebieten im Osten zu schaffen, sehr nahe zu sein. Bisher sind die Einschätzungen der beiden Experten maximal Indizien für den Zusammenbruch des russischen Militärs.
Quelle: ntv.de