Armee oder Boden verlieren Experten: Moskau zwingt Kiew zu schwerwiegender Entscheidung
14.05.2024, 18:40 Uhr Artikel anhören
Russland bombardiert die Millionenstadt Charkiw. Kiew ruft den Westen zur Lieferung von mehr Artillerie-Granaten zur Verteidigung auf.
(Foto: picture alliance/dpa/ukrin)
Die Russen rücken im Grenzgebiet zu Charkiw weiter vor. Die ukrainische Millionenstadt scheint russischen Bombenangriffen ausgeliefert. Experten sehen die ukrainische Militärführung in einem Dilemma. Kiew könne weder die Frontlinie noch die großen Städte ausreichend verteidigen.
Die Ukraine ist aus einem Mangel an Waffen, Munition und Soldaten seit Monaten in der Defensive. Die Millionenstadt Charkiw wird von Russland über die Grenze hinweg aus kurzer Entfernung bombardiert. Vergangene Woche begannen russische Truppen an der Grenze auch eine Bodenoffensive und haben bereits mehrere ukrainische Dörfer erobert. Die Rasputiza, das Tauwetter, das den ukrainischen Boden in tiefen Schlamm verwandelt, ist vorbei. Die warme Jahreszeit begünstigt weitere russische Bodenmanöver.
Die Lage sei sehr angespannt und ändere sich rasch, sagte der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes HUR, Kyryllo Budanow, in der Dauernachrichtensendung des Fernsehens. Dennoch sieht er allmählich eine Stabilisierung der Front. "Ich glaube aber, dass es seit gestern Abend eine rasche Tendenz zur Stabilisierung gibt." Die russischen Truppen würden an der Grenze blockiert, sagte Budanow. Er warnte allerdings davor, dass sie einen ähnlichen Vorstoß ein Stück weiter nördlich in Richtung der Gebietshauptstadt Sumy unternehmen könnten.
Auch Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte in seiner Videobotschaft vom Montagabend davon gesprochen, dass ukrainische Truppen den Frontabschnitt verteidigten und sogar zum Gegenangriff übergegangen seien. Unabhängige Bestätigungen für diese Einschätzungen gab es nicht.
Selenskyj hat derweil bei einem Besuch von US-Außenminister Antony Blinken am heutigen Dienstag Patriot-Flugabwehrsysteme für die von Russland bedrohte Großstadt Charkiw gefordert. Zum Schutz der Stadt und ihres Umlands vor Drohnen und Raketen seien zwei dieser Systeme notwendig, sagte Selenskyj in Kiew. US-Hilfe für den Abwehrkampf sei von entscheidender Bedeutung. Dabei sei Flugabwehr das "größte Defizit", sagte Selenskyj.
Der ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umerow ruft westliche Partner angesichts der russischen Angriffe im Raum Charkiw zudem zur Lieferung von mehr Artillerie-Granaten auf. Russland sei in diesem Bereich um ein Vielfaches überlegen, sagt er in einer Online-Ansprache für den Demokratiegipfel im dänischen Kopenhagen. Es sei unter diesen Umständen äußerst schwierig, die Stellungen zu halten.
"Schwierigste Zeiten für die Ukraine"
Die russische Offensive um Charkiw stellt die Ukraine vor ein strategisches Dilemma: "Sie muss die Frontlinie verteidigen, aber auch strategische Punkte", insbesondere die großen Städte, sagt der Politikwissenschaftler Pierre Razoux vom französischen Forschungszentrum FMES. Beide Ziele zu erreichen, ist Kiew derzeit nicht in der Lage. Die kommenden Wochen "könnten zu den schwierigsten Zeiten für die Ukraine in diesem Krieg werden", schreibt der frühere australische General Mick Ryan auf X.
Er sieht Kiew nicht nur vor einem militärischen wie auch politischen Problem: "Wenn die Ukrainer sich dazu entschließen, das Gebiet um jeden Preis zu halten, werden sie noch mehr von ihrer immer kleiner werdenden Armee verlieren. Wenn sie sich dafür entscheiden, ihre Armee zu erhalten, werden sie Boden abgeben müssen."
Westlichen Analysten zufolge hat Moskau jedoch nicht das unmittelbare Ziel, die Industriemetropole Charkiw zu erobern. In diesem Gebiet "sind die russische Streitkräfte nicht zahlreich genug, um eine Stadt von der Größe Charkiws einzunehmen", urteilt Ryan. Aber Russland könne den Artilleriebeschuss auf die zweitgrößte Stadt verstärken.
"Russen sind in optimaler Position"
Der Kreml will eigenen Angaben zufolge eine Pufferzone im Nordosten der Ukraine schaffen, um die russische Region Belgorod vor weiteren Angriffen zu schützen. In der Grenzregion hat Russland einen klaren logistischen Vorteil. "Die Russen können Luftunterstützung, Drohnen und Artillerie mobilisieren, indem sie von ihrem Territorium aus schießen, also mit verkürzter Logistik und Luftüberlegenheit", sagt Razoux. "Sie sind in einer optimalen Position."
Erst in mehreren Wochen oder gar Monaten wird sich zeigen, ob Russland seinen Vorstoß im Nordosten ausweiten und längerfristig einen strategischen Vorteil an anderen Stellen der Front ziehen kann. Eine "grundlegende Änderung" der russischen Strategie kann Klyszcz nicht erkennen. "Die Eroberung der gesamten Donbass-Region scheint im Moment die höchste Priorität zu haben", sagt er.
Der jüngste russische Vorstoß "zeugt von einem geringen Widerstand", schreibt der französische Forscher und General im Ruhestand, Olivier Kempf, in seinem Blog. Offensichtlich wolle Kiew nicht zu viele Kräfte in schwer zu verteidigenden Gegenden verbrauchen. Das in drei Tagen eroberte Gebiet sei aber "nicht zwangsläufig von Bedeutung", urteilt Kempf.
Quelle: ntv.de, gut/AFP/dpa/rts