Politik

Staatschef redet wie zu Feinden Expertin Pagung: Putins Stimmung wirkt rachsüchtig

Russland-Expertin Sarah Pagung forscht zu russischer Außen- und Sicherheitspolitik bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

Russland-Expertin Sarah Pagung forscht zu russischer Außen- und Sicherheitspolitik bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

(Foto: picture alliance / Eventpress)

Die EU berät zur Stunde darüber, schon jetzt Sanktionen gegen Russland zu beschließen. Wie viel Druck kann man damit aufbauen? Und ist Wladimir Putin so noch erreichbar? Russland-Expertin Sarah Pagung erklärt, warum Sanktionen Putins Position im Land zunächst sogar stärken können, aber langfristig unverzichtbar sind. Für den Moment schwinden die Chancen, eine Eskalation zu verhindern.

ntv.de: Die Europäische Union berät zur Stunde darüber, ob sie schon jetzt neue Russland-Sanktionen in Kraft setzen will. Was ist aus Ihrer Sicht notwendig?

Sarah Pagung: Die EU muss auf alle Fälle schon jetzt Sanktionen erlassen. Sie hat sich bislang darauf zurückgezogen, das erst bei einem wirklichen Einmarsch zu tun. Aber was wir jetzt von Putin sehen, ist eine derartige Verletzung nicht nur des internationalen Rechts, sondern vor allem auch von Minsk II, also dem geltenden Minsker Friedens-Abkommen, dass es Konsequenzen haben muss.

Denken Sie schon jetzt an das große Besteck oder könnte man schrittweise vorgehen?

Aus meiner Sicht könnte man die Sanktionen durchaus aufsplitten und sagen, wir beschließen ein Sanktionspaket, das in Kraft tritt, wenn sich die russischen Truppen in den separatistischen Gebieten befinden. Ein weiteres könnte es geben, wenn sie dann auch in den Rest der Ukraine einmarschieren. Beide Pakete können ja trotzdem stark sein.

Was wären starke Pakete?

Der Westen könnte beispielsweise Sanktionen gegen finanzielle Institutionen, also vor allem gegen Banken oder den Russian Direct Investment Fund, jetzt schon verhängen. Später könnte er dann mit Embargos, also Handelsrestriktionen, hinterherschießen, die auch nochmal sehr stark wären. Man hat durchaus unterschiedliche Möglichkeiten für starke Sanktionen. Was allerdings klar ist: Nord Stream 2 muss über den Jordan gehen. Die Regierung hat die Zertifizierung ja gerade bis auf weiteres gestoppt.

Es gibt Vorwürfe, der Westen habe Putin in den letzten Wochen nicht zugehört, sondern ihn immer aus der eigenen Perspektive interpretiert. So wie Scholz am Wochenende sagte, er weigere sich, "Putin beim Wort zu nehmen". Hätte man ihn aber beim Wort genommen, hätte das etwas geändert? Wäre eine andere westliche Strategie nötig und möglich gewesen?

Da kann ich auch nur spekulieren. Ich muss allerdings sagen, angesichts dessen, was wir gestern gesehen haben - diese Sicherheitsratssitzung, die eigentlich ja ein reines Theaterstück war, und auch die Rede von Wladimir Putin - glaube ich nicht, dass man wirklich Einfluss gehabt hätte. Außer, man hätte allen Forderungen Russlands rundherum zugestimmt. Jenseits dessen hatte man, so glaube ich inzwischen, nicht wirklich eine Chance, auf Putins Entscheidungen Einfluss zu nehmen.

Hat Putin genug Rückhalt, auch von der Wirtschaft in seinem Land, um im Zweifelsfall sämtliche Brücken nach Westen abzureißen?

Ich fürchte, ja. Denn bei Sanktionen, seien sie gegen Oligarchen persönlich oder auch gegen Wirtschaftsunternehmen, haben Sie das Problem, dass diese Sanktionen die Personen kurz- und mittelfristig eigentlich eher enger an das Regime binden. Denn die Quelle ihres Reichtums - seien es Staatsaufträge, zum Beispiel auch Rohstoffe - die sitzt ja in Russland. Das heißt, der Reichtum dieser Menschen basiert auf dem System Putin und auf den Chancen, die sich ihnen dort bieten. Diese Leute müssen sich im Zweifelsfall für Russland entscheiden. Darum sollten wir uns bei der Sanktionspolitik ganz genau darüber im Klaren sein, dass das eine Langfrist-Strategie ist.

Was war neu an Putins gestriger Rede?

Substanziell haben wir nichts Neues gehört, auch die Anschuldigung der angeblichen atomaren Bewaffnung der Ukraine oder dass die Ukraine kein Staat ist, existiert schon länger. Wenn ich aber seine Rede von gestern mit der von 2014 zur Annexion der Krim vergleiche: Damals hielt er eine sehr patriotische Rede, versuchte, einen nationalen Aufbruch zu inszenieren. Die gestrige Rede hingegen war fast feindselig, rachsüchtig, mit Aufbruch hatte sie gar nichts zu tun. Die Stimmung war völlig anders.

Scheint Putin Ihnen für westliche Diplomatie derzeit noch erreichbar zu sein?

Ich glaube tatsächlich, dass Wladimir Putin sich seine eigene Geschichtsschreibung zusammenbastelt. Er hält ja gern Vorträge über Geschichte, das war gestern nicht das erste Mal. Die Aspekte, die er einschließt, und diejenigen, die er auslässt, führen zu einer sehr eklektischen Mischung, die historisch überhaupt nicht haltbar ist.

Auch wenn wir nochmal auf den Ablauf und das Setting dieser Sicherheitsratssitzung schauen: Viele der Männer, die dort saßen, gelten als Angehörige seines engsten Zirkels, denen Einfluss auf ihn zugeschrieben wird. Ich frage mich aber, ob dieser räumliche Abstand, der da zwischen dem Regierungschef und seinen Beratern geherrscht hat, sinnbildlich für den Abstand war, den diese Männer auch tatsächlich zu ihm haben. Was bedeuten würde, dass wir die Dynamiken in diesen Entscheidungen falsch eingeschätzt haben. Da sie so abgeschlossen, so intransparent und informell gefällt werden, ist es sehr schwierig, überhaupt eine Vorstellung davon zu bekommen, wie Entscheidungsprozesse laufen.

Das klingt so, als sei Putin nicht nur für den Westen derzeit kaum noch erreichbar, sondern auch für seine eigenen Leute. Und als habe der Sicherheitsrat da gestern tatsächlich nur als Kulisse gesessen.

Dass solche Treffen inszeniert werden, ist an sich nicht neu. Das gibt es auch öfter mit Ministern, mit der Regierung, das ist fast ein übliches Schauspiel im russischen Fernsehen. Neu war, dass es mit dem Sicherheitsrat stattfand. Das haben wir meines Erachtens bisher nicht gesehen, weil der eigentlich hinter verschlossenen Türen tagt. Diese Leute - der Chef des Auslandsgeheimdienstes, der Verteidigungsminister, das sind wirklich mächtige Leute in Russland - die saßen da wie Schulkinder. Die Dynamik, die sich dort gezeigt hat, fand ich wirklich besorgniserregend.

Mit Sarah Pagung sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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