So öffentlich passierte eine Geheimdienstpanne selten: Vor den Augen der Welt schießen die USA einen mutmaßlichen chinesischen Spionageballon ab. Nun sollen die Trümmer Aufschluss über dessen Auftrag geben. Das könnte Peking weiter in Erklärungsnot bringen.
Es klingt wie aus einem Spionagefilm der 1970er Jahre: Nach einer tagelangen Fahrt quer über die Vereinigten Staaten schießt ein F-22-Kampfjet der US-Luftwaffe am Sonntag einen mutmaßlichen Spionageballon aus China ab - unter dem Jubel tausender Zuschauer, die das Schauspiel vom Boden aus verfolgten. Selten wurde ein missglückter Spionageversuch, wenn es denn tatsächlich einer war, derart öffentlich und spektakulär beendet. Auch wenn Peking weiter abstreitet, dass der Ballon zum Zweck der Auskundschaftung diente, ist der diplomatische Schaden angerichtet. Noch peinlicher ist, dass Peking nun auch die Herkunft eines zweiten Ballons über Lateinamerika bestätigen muss.
Die Erklärung, es handele sich in beiden Fällen um verirrte Wetterballons, mag niemanden so recht überzeugen. US-Medien berichten, dass in den Gewässern vor der Küste South Carolinas inzwischen die Bergung der Trümmerteile begonnen hat. Auch die US-Bundespolizei FBI sei an der Auswertung der Technikkapsel, die der Ballon transportierte, beteiligt. Beim FBI ist der Inlandsgeheimdienst organisiert. Allem Anschein nach versprechen sich die USA nicht nur Informationen darüber, welchen Auftrag, sondern auch welche Fähigkeiten dieser Ballon hatte. Denn selbst wenn die Spionagetechnik aus der Zeit gefallen wirkt, hat sie gegenüber moderner Satellitentechnik einige Vorteile.
Warum ausgerechnet ein Ballon?
Auf dem Radar ist ein Ballon unter Umständen nicht so leicht zu erkennen - anders als eine Aufklärungsdrohne. Und Satellitenbilder werden zwar immer schärfer, aber Satelliten rasen mit mehreren Tausend Stundenkilometern um die Erde. Das begrenzt ihre Möglichkeiten. Außerdem ist es wesentlich teurer, einen Satelliten ins All zu schicken als einen Heliumballon. Auch operativ hat der Ballon Vorteile. Er fliegt sehr langsam und kann entsprechend lange über einem Ziel bleiben, um möglichst viele Daten zu sammeln. Experten vermuten deshalb, dass der Ballon nicht etwa hochauflösende Fotos - etwa von den Militäranlagen im US-Bundesstaat Montana - liefern, sondern elektronische Signale erfassen sollte.
Ziel der Spähaktion könnte demnach gewesen sein, über Sensoren am Ballon militärische Funkwellen abzufangen. "Das US-Militär nutzt immer noch Radio für ihre Kommunikation", sagte der australische Militärexperte Malcolm Davis dem "Sydney Morning Herald". Aber auch Funkwellen von Mobiltelefonen könnten abgefangen werden. Gerade über einer Luftwaffenbasis, auf der mit Atomsprengköpfen bestückte Interkontinentalraketen lagern, sei das eine "sehr ernste" Angelegenheit, so Davis.
Was steckt in der Technikkapsel?
Vermutlich beinhaltet sie elektronische Sensoren und ein Übertragungsgerät, um die gesammelten Daten via Satellit nach China senden zu können. Fraglich ist, was davon nach dem Absturz aus 18.000 Metern ins Meer noch übrig ist. "Das ist, als würde sie aus dieser Höhe auf Beton aufschlagen", sagte Davis dem "Herald". Zumindest die Technikkapsel soll laut Pentagon weitgehend intakt sein. Ab dem Zeitpunkt, als der Ballon entdeckt wurde, nutzte er den USA aber auch ihrerseits, um Informationen über die Spähtechniken der Chinesen zu gewinnen. Womöglich ist das einer der Gründe, warum der erst nach mehreren Tagen abgeschossen wurde.
Bei den Republikanern hatte das Warten bis zum Abschuss für Unmut gesorgt. Man lasse sich von den Chinesen an der Nase herumführen, hieß es. Auch US-Präsident Joe Biden hatte zunächst gefordert, den Ballon "so schnell wie möglich" abzuschießen. Doch das Pentagon hielt dagegen - nicht nur, weil Trümmerteile nicht auf bewohntes Gebiet fallen sollten, sondern auch, um den Ballon und seine Ausrüstung genau zu beobachten. Aus nachrichtendienstlicher Sicht sei das "sehr wertvoll" gewesen. Um zu verhindern, dass der Ballon weiterhin Daten sammelt, könnten die USA laut Davies die militärische Kommunikation in den entsprechenden Gebieten eingestellt haben. Möglich sei auch, dass die Sensoren gestört oder mit Daten überladen wurden.
Wie viele Ballons sind im Einsatz?
Ab dem 19. Jahrhundert waren Spionageballons wichtige Werkzeuge, um Informationen zu sammeln - auch für die USA. Noch in den 1950er Jahren nutzten sie die Technik, um die Sowjetunion auszuspionieren. Von 448 Ballons, die im Rahmen des Programms "Moby Dick" über das Land hinweggeflogen sind, kamen nur 44 zurück (allerdings mit mehr als 13.800 Fotos im Gepäck). Alle anderen stürzten ab oder wurden abgeschossen. Auch wenn es mit Satelliten, Drohnen und Cyber-Armeen inzwischen modernere Spähtechniken gibt, sind Spionageballons weiter im Einsatz. Das Pentagon bestätigte allein im Zuge des jüngsten Vorfalls vier weitere Überflüge über US-Staatsgebiet, drei davon fielen demnach in die Amtszeit von Donald Trump.
Vieles spricht dafür, dass die USA auch aus dem jüngsten Ballonüberflug keine große Sache gemacht hätten, wäre er denn nicht entdeckt worden. Schon seit dem 28. Januar, als der Ballon noch über Alaska schwebte, hat das Pentagon von seiner Existenz gewusst. "Wahrscheinlich dachten die Chinesen, dass die Amerikaner auch diesen Ballon nicht abschießen würden", vermutete Davis. Spätestens als der Ballon aber von Zeugen am Boden gefilmt wurde und selbsternannte Cowboys mit ihren Gewehren darauf schossen, musste das Ministerium handeln - und dessen Existenz offiziell machen.
Warum flog der Ballon so tief?
Experten vermuten, dass es womöglich tatsächlich ein technisches Problem gegeben hat - allerdings in anderer Form, als von Peking behauptet. Das chinesische Außenministerium hatte von einem Abdriften des vorgeblichen "Forschungsballons" wegen der Witterung und begrenzter Steuerungsmöglichkeiten gesprochen. Doch auffällig ist eher, dass er so tief flog. Moderne Spionageballons können zwischen 24 und 37 Kilometer hoch fliegen - noch über der Flughöhe für Kampfjets oder Passagierflugzeuge. Ein technischer Defekt könnte dazu geführt haben, dass der chinesische Ballon zu tief flog.
Es gibt aber noch einen weiteren Erklärungsansatz: Demnach könnte China die Provokation im Vorfeld des geplanten Besuchs von US-Außenminister Anthony Blinken gezielt gesucht haben. "Möglicherweise ging es genau darum, entdeckt zu werden", spekulierte der britische Drohnen-Experte Arthur Holland Michel in der BBC. "China könnte den USA zu demonstrieren versucht haben, dass das Land über ausgeklügelte technologische Fähigkeiten verfügt, in den US-Luftraum einzudringen, ohne eine ernsthafte Eskalation zu riskieren." In dieser Hinsicht sei ein Ballon eine "ziemlich ideale Wahl."
Dass die Reaktionen aus Washington so heftig ausfallen würden, hat Peking allem Anschein nach dennoch unterschätzt. Der Blinken-Besuch liegt für unbestimmte Zeit auf Eis, die Börsen in Shanghai und Hongkong gingen am Morgen auf Talfahrt. Und sollten die USA tatsächlich sensibles Material aus den Trümmerteilen des Ballons herausfischen, würde Peking vor aller Welt der Lüge vom "Wetterballon" überführt. Es wäre wohl der Beginn einer neuen diplomatischen Eiszeit zwischen den beiden Ländern.
Quelle: ntv.de