
Der Kalte Krieg ist zurück und Gut und Böse sind äußerst leicht zu identifizieren.
(Foto: AP)
Der Krieg verändert das Denken. Der Westen schäumt und zittert vor der russischen Aggression, begeistert sich für das Heldentum der Ukrainer. Verlieren wir jetzt den kühlen Kopf?
Von Deutschlands Bürostühlen und Couchgarnituren aus schauen wir auf die Knautschzone der Freiheit, in der die Ukrainer gerade die Hälse für uns hinhalten. Wir schauen gebannt, wie Streubomben auf Zivilisten herabregnen und Kinder in U-Bahn-Schächten ausharren. Dieser Krieg ist für den Westen anders, kulturell näher, er packt uns, fast ausnahmslos. Und er verändert unser Denken rasant - macht es kriegerisch.
Was in unseren Köpfen passiert, hat der ukrainische Autor Andrej Kurkow in seinem Roman "Graue Bienen" erzählt. Dessen Protagonist Sergej Sergejitsch wohnt fast allein in einem zerbombten Dorf im Donbass, zwischen allen Fronten, er hat keinen Fernseher und kein Radio, er hört nur den Geschützdonner, er ist apolitisch, seine einzigen Sorgen sind die Blindgänger im Gemüsegarten und Querschläger auf seine Bienenstöcke. Doch als er in Gesellschaft seines westukrainischen Flirts Galja zu Ehren eines gefallenen Soldaten knien soll, bricht es in ihm durch: Er wird in den Krieg gezogen, soll Farbe bekennen, unweigerlich. Auf seinen Knien erinnert Sergej sich: "niemand zwingt den Donbass in die Knie!" Das hatte er auf einem Graffito gelesen. Und nun, auf seinen Knien, fühlt er sich erniedrigt und denkt einen Gedanken, der ihm selbst "fremd und gefährlich" scheint: "Zum Teufel, sie haben es doch getan!"
Wir erleben eine politisierende Erniedrigung durch Wladimir Putin. Wir wähnen uns auf den Knien, dabei hat uns die große Politik doch eigentlich gar nicht interessiert: Russland nicht, die Krim nicht, Syrien nicht und Grosny auch nicht. Und jetzt, auf den Knien, werden wir auf einmal wütend: Versicherungsangestellte erinnern sich an ihre Wehrzeit, Familienväter posieren in Uniform, von der Terrasse aus erteilen Männer Kriegsrat und messen die Reichweite von Mittelstreckenraketen aus: In Berlin kann eine Iskander aus Kaliningrad mit Atomsprengkopf also innerhalb von fünf Minuten aufschlagen, so so, aha, na wenn schon. Die Ukraine wirbt im Netz um Freiwillige für die Fremdenlegion. Krieg kann Sinn stiften, da wird man gebraucht.
"Ich vermisse den Kalten Krieg"
Und es ist so leicht, die richtige Seite zu wählen: Dieser Krieg ist, sieht man vom taktischen Nebel der Desinformation einmal ab, moralisch so klar wie ein amerikanischer Kinofilm. "Ich vermisse den Kalten Krieg" seufzte Judi Dench als "M" im James-Bond-Film "Casino Royale", weil dort grad alles etwas unübersichtlich wurde. Dieses Problem stellt sich uns nicht: Der Kalte Krieg ist zurück und Gut und Böse sind äußerst leicht zu identifizieren. Endlich keine Asymmetrien wie im "Krieg gegen den Terror", endlich kein Balkan-Durcheinander, keine Massaker unter Menschen, deren Probleme die meisten Europäer eher wenig interessieren.
Es ist auch kein amerikanischer Krieg, auf den man nun den eigenen linken Antiamerikanismus projizieren müsste oder dessen Rechtfertigungsgrund, angebliche Massenvernichtungswaffen, sich am Ende als Geheimdienst-Scharade herausstellt, wie im Irakkrieg. Nein, das hier ist unser Krieg, made in Europe, bislang ohne die Amerikaner - wobei wir für die Atomwaffen dann natürlich doch eventuell ein bisschen dankbar sind, wenn Putin dereinst im Baltikum steht. Putin wird eingehen in die Geschichte als Militarisierer der EU, als versehentliche Wehretat-Pumpe für Deutschland.
Die schiere Notwendigkeit der Selbstverteidigung bricht sich Bahn und gibt uns die Kraft der Gerechten: Die Bewaffnung fühlt sich gerade so uneingeschränkt richtig an wie eine Dose Pfefferspray in der Damenhandtasche. Wie sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck? "Wer bei einer militärischen Vergewaltigung zuschaut, macht sich schuldig."
Der Böse ist Bloodimir Putin
Nichts ist heldenhafter und zweifelloser, als jetzt an der Seite der Ukraine zu stehen, wenigstens mit dem Profilbild. Der Böse der Gegenwart ist Bloodimir Putin, der Irre aus dem Kreml, der das eigene Volk zum Krieg gegen die ukrainischen Brüder verführt. Putin bricht das Recht, zertrampelt die Vision einer friedliebenden, durch das Recht gezügelten Weltgemeinschaft, direkt vor unseren Augen und grinst uns in die vertrottelten Gesichter. 141 Staaten haben ihn gerade in der UN-Vollversammlung zurechtgewiesen. Mehr Rechthaben wäre obszön.
Und die Ukrainer haben nicht nur Recht, sie sind auch noch unfassbar cool dabei: Ein Präsident, der als Schauspieler gerade jetzt auf Arte ausgestrahlt wird, heiser mediengerechte Einzeiler aus dem Untergrund sendet und ein ukrainisches Volk, das mit bloßer Attitüde russische Panzer auseinanderreißt, sind mächtige Motivatoren. Es ist ein cooler Krieg.
Doch diese Macht verführt, etwa zum Bruch Genfer Konventionen - wenn etwa der ukrainische Botschafter in Deutschland Videos von Kriegsgefangenen verbreitet oder eben das Werben um Fremdenlegionäre. Markus Lanz redet Ralf Stegner in Grund und Boden, was ich bei Stegner jederzeit verstehe, aber eben nicht mehr unter den Begriff "Moderation" fällt. Die SPD wirft Altkanzler Gerhard Schröder aus der Partei. Russische Künstler müssen sich sofort von Putin distanzieren. Russen in Deutschland müssen mit Anfeindungen rechnen. Die NZZ warnt gerade zurecht vor einer Neuauflage der "Sippenhaft". Manch einer kokettiert auf Twitter laut mit dem Gedanken, Kot auf Menschen zu werfen, die eine russische Botschaft verlassen. Die gerechte Kriegsbegeisterung weckt den Affen in uns, den müssen wir beherrschen.
Der Mensch, der sich vernichten können muss
Für so eine Kriegsbegeisterung steckt mir das Kulturecho des Kalten Kriegs wohl zu sehr in den Knochen. Filme wie "The Day After" und Liedzeilen wie Stings "I Hope the Russians Love Their Children, Too". Die Rhetorik vom Menschen, der sich vernichten können muss, weil er mechanistisch den Gesetzen der Macht folgt, der den nuklearen Holocaust als eine Option eines spieltheoretischen Szenarios verniedlicht, diese Rhetorik ist wie ein schrecklicher Ohrwurm zurück in meinem Kopf, ein "Last Christmas" der Weltgeschichte. Es ist seit der Kuba-Krise der erste Krieg mit absehbarer nuklearer Eskalation und, da werden sogar Experten verhuscht und wisperig, planetarer Vernichtung.
Doch wer glaubt, nur die alten Kriegserfahrenen und die Kinder der Achtziger hätten die Hosen voll, irrt: Eine Studie aus der Vorkriegszeit ermittelte, dass mehr als die Hälfte der Millennials mit einem nuklearen Angriff im kommenden Jahrzehnt rechneten. Influencer auf Instagram geben Atemtipps gegen Panik. Wir haben alle Angst. Putin weiß und nutzt das. Sollen wir uns davon fremdbestimmen lassen?
Zum warmen Gefühl des Rechthabens gesellt sich also das frostige Gefühl der Ohnmacht: Das Pokerspiel, in dem wir alle sitzen, spielen gerade andere. Generäle, Kanzler, militärische Berater, solche Leute. Nicht die unerträglichen Twitter-Strategen, nicht die wohltemperierten Kommentarspalten der Tagespresse.
Kriegseisen in die Knautschzone der Freiheit
Vorerst liefern wir nur weiter Kriegseisen in die Knautschzone der Freiheit und hoffen, dass die letzte Flugabwehrrakete aus NVA-Beständen nicht die eine zuviel ist für Bloodimir, aber gerade genug, damit er innehält. Das reicht erkennbar nicht. Ich hoffe, die Spieler lassen sich weder von Furcht noch von Hass oder dem Gefühl der gerechten Sache verführen. Auch ein cooler Krieg verlangt einen kühlen Kopf. Es geht um Leben oder Freiheit. Das ist der Höchsteinsatz.
Ich wünsche eine glückliche Hand.
Quelle: ntv.de