Irans unerklärter Krieg Hamas-Angriffe sind "neues Trauma für Israel"
08.10.2023, 09:08 Uhr Artikel anhören
Im Kibbuz Kfar Azza steht nach dem Hamas-Angriff ein Haus in Flammen.
(Foto: AP)
Seit Jahren sorgt der Iran mit der Finanzierung und Verbreitung von Waffen für immer wieder neue Terrorangriffe in Israel. Teherans gelenkte Hamas-Offensive ins israelische Kernland könnte diesen Schattenkrieg nun in einen offenen Konflikt ausweiten.
Am 6. Oktober 1973 - am jüdischen Versöhnungstag - begann unter Führung von Ägypten und Syrien ein militärischer Überraschungsangriff auf Israel, der fast den Untergang des jüdischen Staates bedeutete. Nach ersten Erfolgen der Angreifer konnte Israel das Blatt nach 19 Tagen noch wenden. 50 Jahre später sollte die radikalislamische Hamas aus dem Gazastreifen eine ähnliche Taktik nutzen: Am frühen Morgen des jüdischen Festes Simchat Tora (Freude der Tora) feuerte die palästinensische Terrororganisation überraschend Tausende Raketen auf Ziele in Israel ab. Außerdem drangen bewaffnete Milizen auf israelisches Gebiet ein und schossen auf Zivilisten. Mehr als 300 Israelis verloren ihr Leben.
"Die Terroristen haben wahllos auf Menschen geschossen und ein Massaker angerichtet", erzählt Shlomo Lippstadt, ein pensionierter Landwirt aus dem Kibbuz Be'eri in der Nähe des Gazastreifens. Während die Artillerie der israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) Terrorzellen im Westjordanland bekämpfte, unterschätzten die israelische Regierung unter Premier Benjamin Netanjahu und der Sicherheitsapparat wohl die Situation in der palästinensischen Enklave.
Lippstadt ist Veteran des Jom Kippur Krieges. Als junger Offizier gehörte er zu einem Aufklärungsbataillon im Sinai. Im Verlauf des israelischen Gegenangriffs unter Führung des berühmten Generals und späteren Premierministers Ariel Sharon gehörten sie zu den ersten, die den Suezkanal überquerten und die dritte ägyptische Armee umzingelten, was das Ende des Krieges an der Südfront bedeutete. Als Friedensaktivist setzte er sich nach dem Konflikt für einen diplomatischen Ausgleich mit Ägypten, aber auch den Palästinensern ein. "Frieden ist die einzige Lösung," sagt Lippstadt. "Und den macht man mit seinen Feinden. Allerdings wird die Hamas zum Großteil vom Iran gesteuert und zu deren Staatsräson gehört die Vernichtung Israels."
"Handschrift des Iran"
Seit dem vergangenen Jahr hat Teheran verstärkt versucht, die Zahl der Fronten gegen Israel auszuweiten. Zu dieser Taktik gehört, kriminelle arabischen Gangs im jüdischen Staat zu unterstützen, die Stimmung im Westjordanland aufzuheizen und die Hisbollah zu ermutigen, die Spannungen im Norden zu erhöhen. Die Offensive aus Gaza kommt zu einem äußerst sensiblen diplomatischen Zeitpunkt, denn Saudi-Arabien verkündete kürzlich seinen erklärten Willen, die Beziehungen zu Israel zu normalisieren. Ein Bündnis, das Iran zutiefst verunsichern würde. Der Mullah-Staat drohte bereits anderen Staaten, die diesem Beispiel folgen sollten.
"Die Angriffe weisen eindeutig die Handschrift des Irans auf," sagt Gil (Name aus Sicherheitsgründen geändert), Leutnant beim Inlandsgeheimdienst Shabak. "Bei der Hamas ist eine Entwicklung zu beobachten. Zuvor konzentrierte man sich auf Selbstmordattentate und einfache Raketenangriffe. Dieses Mal führten sie eine Operation tief in Israel durch, die einen großen Erfolg für sie bedeutet, denn es traf das Herz der IDF. Die wäre ohne logistische und finanzielle Hilfe aus Teheran nicht möglich."
Der Sicherheitsexperte glaubt, dass die Situation auch an anderen Fronten außer Kontrolle geraten könnte, da dies Teil der iranischen Einkreisungsstrategie sei. So drohten eine neue Intifada im Westjordanland oder ein koordinierter Angriff schiitischer Milizen aus Syrien und dem Libanon, wie durch die pro-iranische Hisbollah.
"In den nächsten Stunden oder Tagen werden wir sehen, ob dies lediglich eine neue Phase der Hamas einleitet, oder ob es Teil einer umfassenderen Strategie ist, an der andere, dem Iran verpflichtete Elemente, beteiligt sind," erklärt Geheimdienstoffizier Gil. Der geheime Krieg zwischen Iran und Israel könnte zu einem offenen Konflikt der Erzfeinde führen."
Krieg zwischen den Kriegen
Tatsächlich führen beide Seiten seit über einem Jahrzehnt einen nicht erklärten Schattenkrieg im Nahen Osten. Die israelische Regierung nennt es den Krieg zwischen den Kriegen. Diese Strategie beinhaltet eine Reihe von Sabotageangriffen und Attentaten gegen das iranische Atomprogramm. Die Antwort des Mullah-Staats ist eine Abnutzungsstrategie durch ihre Stellvertretermilizen in der Region, was die Bevölkerung Israels psychologisch zermürben und wie beim Angriff der Hamas auch Angst verbreiten soll.
Wie bei jedem Waffengang drohen Soldaten und Zivilisten nicht nur physische, sondern auch seelische Wunden. "Solche Konflikte führen bei vielen zu posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS)," erklärt Tal Hartman, ehemaliger Psychologe der IDF, der heute die Kriegsauswirkungen auf die israelische Gesellschaft untersucht. "Zu den Symptomen können störende Gedanken, Gefühle oder Träume sowie psychische oder körperliche Belastungen gehören. Es ist ein innerer Widerspruch, weil das Trauma ständig präsent ist. Diejenigen, die daran leiden, tragen es ständig mit sich herum." Auch Hartman litt daran. Während des Gaza Krieges 2014 geriet er mit seiner Infanterie Einheit in einen Hinterhalt, wodurch mehrere seiner Soldaten getötet wurden. "In meinen Albträumen sah ich jahrelang ihre Gesichter," erzählt er. "Ich fühlte mich für ihren Tod verantwortlich."
Nicht nur er prophezeit, dass die Hamas Offensive einen ähnlichen Effekt wie der Jom Kippur Krieg auslösen könnte. Auch Shlomo Lippstadt vom Kibbuz Be´eri nahe des Gazastreifens glaubt, dass der 7. Oktober 2023 nachhaltige Auswirkungen auf die israelische Bevölkerung haben wird. "Dies ist ein neues Trauma für Israel," sagt der Kriegsveteran. "Es gibt nur einen grundlegenden Unterschied: Der Überraschungsangriff 1973 kostete fast 3000 Soldaten das Leben. Der gestrige Anschlag, mit über 300 zivilen Opfern, terrorisierte und paralysierte ein ganzes Land."
Für ihn hat Premier Benjamin Netanjahu die Situation unterschätzt und die Opfer zu verantworten. "Die IDF schlägt mit aller Härte zurück," erklärt Lippstadt. "Doch in einem Krieg gibt es keine Gewinner, sondern nur Verlierer und am Tag nach dem Waffengang wird dies vor allem unsere Regierung sein."
Quelle: ntv.de