2000-Kilo-Bomben auf Zivilisten Hat Israel den Hamas-Mann mit den "sieben Leben" getötet?
19.07.2024, 16:55 Uhr Artikel anhören
Palästinenser bergen Opfer nach dem verheerenden israelischen Luftangriff auf die Schutzzone al-Mawasi im Süden Gazas.
(Foto: picture alliance / abaca)
Sieben Anschläge soll Hamas-Militärchef Mohammed Deif schon überstanden haben. Ob der achte, vom Wochenende, ihn getroffen hat, ist nicht sicher. Fest steht aber: Der Bombenangriff Israels kostete etwa 100 Palästinenser ihr Leben. Und der Weg aus dem Krieg wird nicht beschritten.
Nie bleibt er in Gaza lange an einem Ort und wird darum "der Gast" genannt: Mohammed Deif - Chef der Kassam-Brigaden, des militärischen Arms der Hamas. Gejagter des israelischen Sicherheitsapparats seit mehr als zwei Jahrzehnten. Etliche blutige Anschläge gegen Israel sollen auf sein Konto gehen. Die "Times of Israel" nennt ihn den "Architekten" des Gewaltexzesses am 7. Oktober 2023. In Gaza heißt es, er habe sieben Leben, sieben Tötungsversuche der Israelis überlebt. Doch was ist beim Achten passiert?
90 Palästinenser soll es das Leben gekostet haben, als Israel am vergangenen Wochenende zum achten Schlag gegen Deif ausholte - mit der Zerstörungskraft von 2000-Kilo-Bomben. Was die Israelis derzeit nicht sicher sagen können: Ist der Terrorchef unter den Opfern? Die Hamas bestreitet das vehement, doch würden sie sich die Blöße einer solchen Niederlage so kurz nach dem Anschlag bereits geben? Das wäre nicht geschickt im Kräftemessen mit dem Gegner.
Funktionieren die Befehlsketten?
Die Israelis zapfen nun sämtliche Quellen an, die zur Verfügung stehen, um die Frage für sich zu beantworten. Satellitenbilder, Drohnenaufnahmen, Material der israelischen Armee, aber auch der palästinensischen Seite. "Irgendwann wird man mit Geheimdienstinformationen weiter operieren", sagt Nahost-Experte Peter Lintl ntv.de. "Dann können die Israelis Informationen abfangen, Kommunikation innerhalb der Hamas, die darüber Auskunft gibt, ob die inneren Befehlsketten weiter funktionieren." Oder ob Verunsicherung herrscht, improvisiert werden muss, weil der entscheidende Kopf an höchster Stelle plötzlich fehlt.
Das dicht besiedelte Gebiet von al-Mawasi, wo die israelischen Bomben fielen, hat der Anschlag vom Samstag ins Chaos gestürzt und in größte Not. "Ich habe noch nie erlebt, dass so viele verletzte Menschen wie heute gleichzeitig eingeliefert werden", berichtete ein medizinischer Koordinator von Ärzte ohne Grenzen (MSF) am Samstag aus der letzten noch funktionierenden Klinik im Süden des Gazastreifens. Überall im Krankenhaus "waren Verletzte oder Tote". Auch MSF sprach von Dutzenden Todesopfern, Hunderten Verletzten und einer völligen Überlastung der Klinik.
Ein solch massiver Angriff passt nicht zu den Aussagen von Israels Premier Benjamin Netanjahu. Der hatte noch im Juni ein baldiges Ende der intensiven Kampfphase angekündigt.
Doch die Jagd auf Deif steht heraus aus anderen Kämpfen. Unter seiner Regie entstand in den vergangenen 25 Jahren auch das weitverzweigte Tunnelsystem unter dem Gazastreifen. Bereits ebenso lange versteckt er sich dort, im Gewirr der Gänge, vor den israelischen Sicherheits- und Streitkräften.
Nun hatten die Israelis offenbar erfahren, "dass er sich zu einem Treffen mehrerer Hamas-Kommandeure in einem oberirdischen Gebäude aufhielt, umgeben von Zivilistinnen und Zivilisten", beschreibt es Lintl, der für die Stiftung Wissenschaft und Politik zu Nahost forscht. Nach seiner Einschätzung war es Deifs bewusste Entscheidung, sich mit den Kommandeuren inmitten vieler Unbeteiligter zu treffen, noch dazu in einem Gebiet, das als sicher deklariert war. Als Region, in der palästinensische Zivilisten und Geflüchtete Schutz vor den Kämpfen haben.
Der Kopf der Kassam-Brigaden nahm demnach die Gefahr für die Bevölkerung bewusst in Kauf, die durch seine Anwesenheit entstehen würde. Er missbrauchte seine Landsleute als Schutzschild. Zugleich jedoch unterschätzte Deif, zu welcher Radikalität die israelische Seite bereit sein würde für die Chance, ihn auszuschalten: zu einem Bombenabwurf inmitten dieser Schutzzone.
Dieser massive Angriff - einmal mehr sehr wahrscheinlich ein Verstoß gegen das Völkerrecht - sendet eine Botschaft an die Hamas. Sie lautet: Niemand, der Israel mit einem Terrorangriff wie dem vom 7. Oktober herausfordert, wird lebend davonkommen. Wir zahlen (fast) jeden Preis. "Dieser Symbolfaktor ist wichtig bei dem Ziel, Mohammed Deif auszuschalten", sagt Lintl. Darüber hinaus sieht der Wissenschaftler auch operative Effekte. Die Fähigkeiten der Hamas würden leiden. Ob einer wie Deif kurzfristig ersetzbar wäre, sei fraglich.
Unter Tage plant die Hamas weiter
Doch geht es mit Blick auf eine Friedenslösung für Gaza und Israel auch um die langfristige Perspektive. Und da bringt es wenig, Einzelpersonen zu einem enorm hohen Blutzoll aus dem Verkehr zu ziehen. Schon jetzt flammen Kämpfe in Gebieten wieder auf, die die israelische Armee (IDF) schon einmal von der Hamas befreit hatte. Lässt die Kontrolle nach, bilden sich Strukturen neu. Denn Israels Streitkräfte kontrollieren zwar weite Teile der Oberfläche im Gazastreifen. Doch unter Tage, in der Tunnelstadt, richten die Islamisten weiter all ihre Kräfte und Planungen auf das eine Ziel aus: Israel auszulöschen. "Überall dort, wo die israelische Armee sich zurückzieht, sieht man, dass die Hamas wieder zurückkommt", sagt Lintl. "In Gaza-Stadt führen die israelischen Streitkräfte inzwischen wieder Manöver durch, weil dort die Hamas erneut an Stärke gewinnt."
Dieser Effekt zeigt, wovor viele Expertenstimmen von Anfang an warnten: dass es schwer sein würde, die Terroristen dauerhaft zu entmachten, wenn man nicht bereit ist, in Gaza eine öffentliche Ordnung herzustellen. Ein System einzusetzen, das den Palästinensern Perspektiven schafft, mit dem sich Gaza aber auch kontrollieren lässt. Die Israelis wollen diese Kontrolle in Gaza künftig nicht ausüben, gleichzeitig sperren sie sich gegen Initiativen, eine andere Lösung zu finden. Ein Übergangssystem etwa, das von arabischen Nachbarstaaten gemeinsam implementiert würde, bis man eine palästinensische Lösung findet.
Selbstbestimmung für Gaza und Sicherheit für Israel - diese beiden Ziele müssen miteinander verquickt werden. Doch wäre das auch schon schwierig zu erreichen, wenn man auf beiden Seiten ansprechbare, konstruktive Akteure hätte. Im Fall Gazas jedoch haben es die internationalen Vermittler auf der einen Seite mit einer Terrororganisation zu tun. Auf der anderen Seite sitzen Vertreter einer Regierung, die ihre Mehrheit auf rechtsextreme Parteien stützt, die offen fordern, den Gazastreifen zu entvölkern. Sehr viel härter könnte diese Nuss wohl nicht zu knacken sein.
"Die internationale Gemeinschaft drängt auf ein Nachkriegsszenario, in dem die Palästinenser über sich selbst bestimmen und der Gazastreifen wieder aufgebaut wird. Demilitarisiert und mit Sicherheitsgarantien für Israel, die internationale Kräfte in Gaza übernehmen könnten", sagt Lintl. "Doch die israelische Regierung beharrt darauf, dass sie trotzdem ständig militärischen Zugriff auf den Gazastreifen haben will oder sogar in Teilen mit der Armee dort präsent sein."
Zwischen diesen Positionen ist bislang keine Einigung möglich, und das nährt die Befürchtung, dass der Krieg auf kleinerer Flamme noch Jahre weiter köcheln wird, der Wiederaufbau deshalb nicht starten kann und die Palästinenser in Gaza einem Ausnahmezustand ohne Ende entgegenblicken.
Zumal sich auch bei den Geiselverhandlungen nichts tut. Vor Wochen sah es kurz so aus, als könnte der sogenannte "Biden-Plan" einen Impuls geben: Herausgabe der Geiseln gegen mehrere Wochen Waffenruhe, die schließlich in ein Ende des Krieges münden würden. Doch das Momentum verstrich. Und nun, nach dem Anschlag auf Deif, scheinen die Gespräche, die ohnehin nur über Vermittler von außen laufen konnten, vollends ins Stocken geraten zu sein.
1027 Häftlinge für ein Soldatenleben
Dennoch scheint das die einzige Chance, die noch verbliebenen 120 Geiseln nach Hause zu holen: der "Deal mit dem Teufel", wie ihn die Mehrheit der israelischen Bevölkerung seit Monaten fordert und zunehmend darüber verzweifelt, dass nichts zustande kommt. Um einen Deal abzuschließen, müsste sich Netanjahu über seine rechtsextremen Regierungspartner hinwegsetzen. Diese lehnen eine Waffenruhe ab und drohen damit, bei Abschluss eines Deals aus der Koalition auszusteigen.
In Israel gilt eigentlich jedes Menschenleben als "unendlich" wertvoll. In einem kühnen Schritt hat Netanjahu als Premier vor vielen Jahren 1027 palästinensische Häftlinge in die Freiheit entlassen, um ein einziges israelisches Leben zu retten: das des entführten Soldaten Gilad Schalit. Dieser Tage bräuchte es wieder einen kühnen Schritt von ihm, um endlich zu sagen: "Keinen Tag länger lasse ich mich von Rechtsextremen erpressen." So könnte Netanjahu diejenigen retten, die von den 120 überhaupt noch am Leben sind. Die Kämpfe im Gazastreifen würden aufhören, die Not der Menschen dort könnte gelindert werden. Auch die Lage im Norden könnte sich beruhigen, denn Hisbollah will weiter Israel beschießen, solange Gaza noch unter Beschuss ist. Ein kühner Schritt des Premiers - und in einer aussichtslos erscheinenden, verzweifelten, tödlichen Lage entstünde plötzlich eine Perspektive.
Quelle: ntv.de