Politik

SPD-Abgeordnete Rhie im Gespräch "Ich saß da und dachte: Das ändert jetzt alles"

Rhie hat den Wahlkreis der ehemaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt übernommen.

Rhie hat den Wahlkreis der ehemaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt übernommen.

(Foto: picture alliance / Flashpic)

Vor rund einem Jahr zieht Ye-One Rhie für die SPD in den Bundestag ein - und muss sich in der Berliner Politik erst zurechtfinden. Wie die junge Abgeordnete schwierige Gewissensentscheidungen trifft, und warum es so schwierig ist, sich gesund zu ernähren, verrät sie im ntv.de-Interview.

ntv.de: Sie sind jetzt seit einem Jahr Abgeordnete des Bundestags. Wie haben Sie sich eingelebt?

Ye-One Rhie: Viel besser als ich dachte. Ich kannte schon ein paar Kollegen, manche hatte ich schon auf Parteitagen getroffen. Trotzdem wusste ich gar nicht, wie ich in dieses ganze Gebilde reinpasse. Es ist ja nicht so, als würde das System auf einen warten. Am 26. September war die Wahl, einen Tag später bin ich nach Berlin gefahren und am 28. waren schon die ersten Sitzungen. Wir haben damals noch im Plenarsaal getagt mit der Fraktion. Ich bin da rein und es war wie am ersten Schultag: Ganz viele neue Kinder, keine Ahnung, ob die Lehrer einen mögen. Man kommt aus dem eigenen Wahlkreis und findet sich auf einmal in einem völlig neuen Gewässer wieder. Ich habe mich gefragt, wie die Leute mich wohl finden. Aber es war dann viel einfacher, als ich dachte. Direkt in der ersten Sitzung haben alle gesagt: "Schön, dass du dabei bist." Ich hätte nicht gedacht, dass man die ganze Fraktion, also 205 Leute, so schnell kennenlernen kann und seinen Platz so einfach findet.

Gab es Fettnäpfchen, in die Sie getreten sind?

Gleich in der ersten Sitzung. Da mussten wir Neuen uns vorstellen. Und dann war Olaf Scholz dran, der in der vorherigen Legislaturperiode nicht im Bundestag saß und somit gewissermaßen auch neu war. Er hat sich vorgestellt mit: "Ich bin Olaf Scholz, komme aus Potsdam und bin Anwalt" - wie wir uns auch. Das fand ich cool und habe getwittert: "Gerade ist Vorstellungsrunde, der neue Kollege aus Potsdam ist auch da. Wusstet ihr, dass er Anwalt ist?" Das wurde dann von der Presse aufgegriffen. Daraufhin hat man mich in der Fraktion beiseite genommen und gesagt: War ganz witzig, aber wir twittern nicht aus Fraktionssitzungen.

Sie sind in Aachen geboren und aufgewachsen, haben dort auch studiert. Wie haben Sie sich Ihr neues Berliner Leben aufgebaut?

Nach der Wahl habe ich mich mit zwei anderen Abgeordneten, Lena Werner und Brian Nickholz, die ich zu dem Zeitpunkt kaum kannte, zusammengetan und wir haben eine WG gegründet. Ich habe davor nie in einer WG gewohnt und hatte es eigentlich auch nicht vor. Aber als die Idee aufkam, dachte ich mir: warum eigentlich nicht? Dort einzuziehen war die beste nicht-politische Entscheidung, die ich in Berlin getroffen habe. Meistens ist jemand von meinen Mitbewohnern da und wir tauschen uns aus. Es ist ein Rückzugsort, an dem ich mich auch mal aufregen kann, wenn ich zum Beispiel frustriert von einer Sitzung heimkomme. Wir verstehen einander und halten uns gegenseitig den Rücken frei. Oft kommen auch andere Abgeordnete zu Besuch und wir trinken abends gemeinsam ein Bier.

Und wie war der berufliche Start? Von der Groko in die Ampel war es sicher ein großer Umbruch.

Die erste Hürde ist, dass man als neue Abgeordnete immer das Gefühl hat, hinterherzulaufen. Da war zunächst die Frage nach dem Büro. Ich hatte das Gefühl, immer im Wettbewerb zu anderen Abgeordneten zu stehen. Ist es besser, so nah wie möglich am Reichstagsgebäude zu sein oder entscheidet man sich für die größeren Büros? Dann ging es darum, wer in welchen Ausschuss kommt. Da steht man wieder in Konkurrenz zueinander. In den ersten Wochen hatte ich das Gefühl: Die Entscheidungen, die ich jetzt treffe, sind wegweisend und unumkehrbar für die nächsten vier Jahre. Im Nachhinein habe ich mir über alles viel zu viele Gedanken gemacht. Und jetzt bin ich echt zufrieden - mit meinem Büro und auch meinen Ausschüssen.

Sie saßen erst wenige Monate im Bundestag, als Russland die Ukraine überfallen hat. Wie haben Sie diesen Moment erlebt?

Ich bin mit sehr viel Schwung gestartet, fand den Koalitionsvertrag unglaublich beflügelnd und habe gedacht, wir werden gesellschaftspolitisch richtig viel verändern. Und dann kam der Krieg. Plötzlich ging es um Summen wie 100 Milliarden Euro Sondervermögen hier, 65 Milliarden Euro Entlastung da. Auf einmal mussten beim Geld immer mehr Prioritäten gesetzt werden. Das war schon ein bisschen demotivierend. Nicht, dass die Arbeit keinen Spaß mehr gemacht hat, nur wurden alle Pläne umgekrempelt. Die Diskussion dreht sich seither um existenzielle Dinge. Menschen machen sich Sorgen, wie sie heizen und essen sollen. Fragen, von denen ich dachte, sie lägen weit hinter uns, kommen hoch: Wollen wir wieder in die Atomkraft einsteigen? Wollen wir die Kohle weiterlaufen lassen? Wollen wir mehr Waffen liefern?

Wie frei sind Sie bei solchen Fragen in Ihrer Mandatsausübung?

Wir haben derzeit viele Gewissensentscheidungen und viele Abgeordnete nehmen diese auch wahr. Es ist eine schwierige Situation, die Freiheit der Mandatsausübung einerseits zu respektieren und gleichzeitig zu vermitteln: Wenn wir zu häufig zu viele abweichende Meinungen haben, dann können wir diesen Fraktionsverbund nicht zusammenhalten. Rolf Mützenich ist dabei der beste Fraktionsvorsitzende, den wir in dieser Situation haben können. Er hat Verständnis, wenn Leute Bedenken haben, und bietet allen 205 Abgeordneten Gespräche an. Wir wissen: Das ist nicht selbstverständlich. Das hat dazu beigetragen, dass viele mit ihrer Entscheidung, zum Beispiel für das Sondervermögen, besser leben können.

Wie haben Sie abgestimmt?

Ich habe dafür gestimmt.

Wie ist in der momentanen Debatte um Waffenlieferungen die Stimmung in der Fraktion?

Da haben wir eine sehr große Mehrheitsmeinung. Ich sehe da nur wenige Stimmen, die das anders sehen. Die haben natürlich auch ihre Berechtigung. Aber wir haben keine große Unruhe in der Fraktion bei diesem Thema. Bei jeder Fraktionssitzung gibt uns Christine Lambrecht einen Bericht und hält uns auf dem Laufenden darüber, was wir liefern können und was nicht. Ich wünsche mir auch von der Union, dass wir angesichts eines internationalen Konflikts enger zusammenrücken. Nicht kritiklos, aber dass man zumindest nicht versucht, mit irgendwelchen Scheinanträgen immer wieder diese Koalition aufzubrechen. Wir liefern jetzt schon viel mehr als in anderen Konfliktsituationen. Man kann der Bundesregierung nicht vorwerfen, dass sie nicht alles versucht. Was noch geliefert werden soll, müssen Christine Lambrecht und die Bundesregierung beurteilen. Ich finde es vielmehr beruhigend, wenn Olaf Scholz dabei bleibt, keine Alleingänge bei Waffenlieferungen unternehmen zu wollen, statt davon abzuweichen. Das war von Anfang an sein Credo.

Im Bundestag wurden Sie Zeugin einer historischen Bundestagsrede als Olaf Scholz eine Zeitenwende sowie überraschend das Sondervermögen für die Bundeswehr ankündigte. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?

Als Olaf Scholz das Sondervermögen angekündigt hat, war das schon einschneidend. Ich habe dann auch nochmal verstanden, wie Politik in dieser Größenordnung gemacht wird. Ich saß da und habe gedacht: "Wow, das ändert jetzt alles."

Mich hat aber unheimlich traumatisiert und verstört, wie einige Unionsabgeordnete gejohlt und geklatscht haben, als wäre es total großartig, dass wir 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr ausgeben. Ich kann nachvollziehen, warum wir das tun, aber es ist für mich kein Grund zu feiern. Ich bin in der Überzeugung aufgewachsen, dass Wandel durch Annäherung möglich ist. Abrüstung und Kommunikation ist der Weg zum Weltfrieden - so naiv es klingt. Für mich war das Sondervermögen eine Notwendigkeit. Trotzdem war erschreckend, wie schnell wir alle Paradigmen aufgebrochen haben. Wir waren mal stolz darauf, starke humanitäre Hilfe zu leisten. Jetzt sollen wir stolz darauf sein, dass wir schwere Waffen liefern können. Das war nie das Bild, das ich von Deutschland hatte.

Im gemeinsamen Interview vor rund einem Jahr hat Ulla Schmidt Sie vor dem harten politischen Geschäft gewarnt. Wie hart ist es?

Es ist hart. Ich habe gerade erst mit Kolleginnen und Kollegen darüber gesprochen, dass wir mehr aufeinander achten müssen. Dass wir es ansprechen, wenn wir glauben, jemand mutet sich zu viel zu. Als Abgeordnete habe ich das Gefühl, ich muss allem genügen. Ich muss Menschen, die ein Treffen wollen, möglichst kurzfristig eins anbieten. Ich muss jedes Thema bearbeitet haben, hier ein Positionspapier schreiben, dort die Rede übernehmen. Auch wenn wir unglaublich privilegiert sind und unheimlich viel Verantwortung tragen: Irgendwo muss auch Platz für die Frage sein, ob ich das alles überhaupt schaffe. Was auch hart ist: Wir haben in der Terminflut kaum Zeit, gesund und ausgewogen zu essen. Nach dem Frühstück esse ich oft bis zum Nachmittag nichts, weil keine Pause eingeplant ist. In der Cafeteria gibt es dann nur noch Kuchen. Viele von uns haben zweistellig zugenommen, weil wir es nicht schaffen, uns gesund zu ernähren und Sport zu machen.

Werden Sie von anderen Menschen anders wahrgenommen, seitdem sie Bundestagsabgeordnete sind?

Neulich habe ich mir eine Pizza nach Hause bestellt und die Tür im Schlabberlook aufgemacht. Der Pizzabote fragte: "Sie sind doch im Bundestag. Wann kommt denn die Cannabis-Legalisierung?" Menschen erkennen mich inzwischen und sprechen mich oft an. Daran musste ich mich erst gewöhnen. Ich selbst komme mir auch gar nicht anders vor als noch vor einem oder zwei Jahren. Ich gehe privat aber viel seltener auf Geburtstage oder andere Treffen, wo ich viele Leute nicht kenne. Wenn ich erwähne, dass ich Abgeordnete bin, haben die Leute Fragen, die ich natürlich auch beantworten möchte. Aber eigentlich bin ich doch ausgegangen, um ein bisschen Spaß zu haben und mal abzuschalten. Ich will an manchen Tagen nicht von morgens bis abends Bundestagsabgeordnete sein, aber es ist schwierig, aus dieser Rolle rauszukommen.

Mit Ye-One Rhie sprach Marc Dimpfel

Quelle: ntv.de

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