
Giffey will noch dreieinhalb Jahre Regierende Bürgermeisterin bleiben - mindestens.
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Sie war der aufsteigende Stern der SPD, war jüngste Bundesministerin der Großen Koalition, bevor sie eine Affäre um ihre Doktorarbeit einholte, und wurde schließlich Regierende Bürgermeisterin von Berlin. Nach nur einem Jahr im Roten Rathaus droht Franziska Giffey das vorläufige politische Aus.
Franziska Giffey kann sich herrlich echauffieren. Wenn Berlins Regierende Bürgermeisterin Kritik am Zustand der Hauptstadt für überzogen hält, beginnen ihre Repliken mit Formulierungen wie "Wissen Se, ditt is ja allet schön und jut, aba ...". Giffeys Dialekt bedient nicht nur die Hauptstadt-Folklore, er ist auch zum Markenzeichen der 44-Jährigen geworden.
Dabei verweist ihr "Icke dette kieke mal", das sie in ihrer Zeit als Bundesfamilienministerin durchaus abzulegen wusste, vor allem auf ihre brandenburgische Herkunft. Rund um Berlin wird das vermeintlich Berlinerische härter und häufiger gesprochen als in der von Zuzug und Wegzug geprägten Metropole, wo Restaurants und Bars gerne mal ausschließlich englischsprachigen Service anbieten. Giffey ist der personalisierte Gegenentwurf zu dieser hippen Welt. Ihre Rock-und-Blazer-Outfits, die streng nach hinten geklammerten Haare sowie die mitunter abrupten Wechsel zwischen Herzlichkeit und strengem Ton erinnern mehr an die Grundschullehrerin, die Giffey eigentlich hatte werden wollen. Sie gab das Lehramtsstudium auf, weil sie befürchtete, mit ihrer dünnen Stimme nicht vor lautstarken Klassen bestehen zu können.
Wenige Tage vor der Wiederholungswahl des Berliner Abgeordnetenhauses sieht es danach aus, als habe Giffey auch vor den Berlinerinnen und Berlinern nicht bestanden. Die SPD wird ausweislich der letzten Umfragen erstmals nach 21 Jahren hinter der CDU landen. Eine Woche vor der Wahl liegen die Sozialdemokraten in den Umfragen zwischen drei und neun Prozentpunkte hinter den Christdemokraten unter ihrem Spitzenkandidaten Kai Wegner. Giffey droht nach ihrem zwischenzeitlich kometenhaften Aufstieg das vorläufige Aus in der Spitzenpolitik - noch bevor sie sich im so hart erkämpften Regierungsamt beweisen konnte.
Giffeys Wahl, Berlins Blamage
Gewählt wurde Giffey am 26. September 2021, als die Berliner in einem Rutsch entscheiden sollten über die Zusammensetzung des Bundestages, des Abgeordnetenhauses, der Bezirksparlamente sowie über einen Volksentscheid zur Enteignung von Wohnungskonzernen. Der komplexe Wahlgang, der auf den gleichen Tag wie der Berlin-Marathon und die hierfür nötigen Straßensperrungen fiel, geriet zu einem organisatorischen Desaster. Wegen diverser Pannen werden am Sonntag zumindest das Abgeordnetenhaus, also das Landesparlament des Stadtstaates Berlin, und die Bezirksversammlungen neu gewählt, wenn auch nur für den Rest der angebrochenen Legislaturperiode.
Die Hauptstadt, so der einhellige Tenor nach der Anordnung der Wahlwiederholung, hat sich wieder einmal blamiert. Dass niemand die politische Verantwortung für diese Katastrophe übernehmen musste, tut sein Übriges. Wer möchte, kann seinen Frust nun an der seit der Jahrtausendwende regierenden SPD abarbeiten, obwohl deren Spitzenkandidatin nun wirklich nichts für die schlechte Wahlorganisation kann. Sie hat den Menschen aber auch keinen anderen Skalp geliefert.
Schon Giffeys Wahl zur Regierenden Bürgermeisterin war unerwartet knapp. Die Grünen lagen am Wahlabend zwischenzeitlich gleichauf, bevor die SPD um 2,5 Punkte davonzog. Dennoch war der Wahlsieg ein Triumph für Giffey, nachdem die Mutter eines Sohnes ein halbes Jahr vor der Abgeordnetenhauswahl ihr Amt als Bundesfamilienministerin wegen der Aberkennung ihres Doktortitels niedergelegt hatte. Die Politikwissenschaftlerin hatte sich von dem Hin und Her um ihre Doktorarbeit in ihrer Ehre gekränkt, von Opposition, Medien und Teilen des Wissenschaftsbetriebs verfolgt gefühlt. Mit der Ernennung zu Berlins Regierungschefin schien dieses leidige Kapitel endlich überwunden.
Liebäugeln mit FDP und CDU
Doch ihr politisches Glück fand Franziska Giffey auch im Roten Rathaus nicht. Die Koalition mit Grünen und Linkspartei passt einfach nicht und der zweite Wahlkampf binnen eineinhalb Jahren reißt die Gräben zwischen den Koalitionspartnern weiter auf. "Es gibt in dieser Koalition an zentralen Punkten sehr unterschiedliche Auffassungen darüber, was der beste Weg für diese Stadt ist", sagte Giffey dem "Tagesspiegel". Sie hatte schon im Wahlkampf 2021 mit einer "Deutschlandkoalition" mit CDU und FDP geliebäugelt; ein No-Go für Berlins besonders weit links stehenden SPD-Landesverband.
Eineinhalb Jahre später kokettiert Giffey noch offenherziger mit Alternativen zum rot-grün-roten Senat, mit dessen Arbeit ausweislich der Umfragen zwei Drittel der Berliner und Berlinerinnen unzufrieden sind. Doch für ein anderes Bündnis müsste die SPD auf Platz eins einlaufen und die Parteibasis den Wechsel mittragen. Beides ist derzeit unwahrscheinlich. Fällt der Abstand zur CDU nicht allzu groß aus, könnte eine zweitplatzierte SPD zumindest die bisherige Koalition fortsetzen und Giffey im Amt bleiben.
Und wenn beides nicht eintritt? Dass Giffey mit der SPD als Juniorpartnerin der CDU Senatorin wird, ist so gut wie ausgeschlossen. Eher noch könnte die Sozialdemokratin im Herbst Bundesinnenministerin Nancy Faeser beerben, falls diese tatsächlich Regierungschefin in Hessen wird. Giffeys politische Zukunft ist in diesen Wochen ein einziger Konjunktiv. Sie selbst missbilligt Spekulationen über ihre persönliche Zukunft, weil es am Sonntag nicht um ihre Person gehe, sondern um die Hauptstadt und ihre Bewohner.
Die Popularität ist weg
Dass Berlin ihr am Herzen liegt, würde der früheren Stadträtin und Bürgermeisterin von Neukölln kaum jemand absprechen. In dem Bezirk mit seinen zahlreichen sozialen Problemen hatte sich Giffey mit ihrer zupackenden Art und ihren Klartext-Ansprachen bundesweit einen Namen gemacht. Inmitten der tiefen Krisenjahre der SPD gehörte sie zusammen mit Manuela Schwesig zu den größten Hoffnungsträgern der Partei: jung, weiblich, ostdeutsch und populär. Die Giffey von früher war nach den diesjährigen Silvesterkrawallen zu erleben, als sie das Problem beschrieb, ohne die vielen Berlinerinnen und Berliner mit Migrationsgeschichte über einen Kamm zu scheren: Sie beklagte bei ntv den fehlenden "Respekt vor den Vertretern des Staates" und die Demokratieferne bei den Jugendlichen aus von Armut und Migration geprägten Kiezen. Sie kündigte gleichermaßen mehr Prävention und ein entschiedeneres Auftreten des Rechtsstaates an.
Dennoch ist Giffeys Popularität dahin: Könnten die Berlinerinnen und Berliner ihren Bürgermeister direkt wählen, läge CDU-Mann Kai Wegner inzwischen vorne. "In krisenhaften Lagen werden die, die vorne stehen und Führungsverantwortung tragen, als Erstes kritisiert", sagte Giffey hierzu dem "Tagesspiegel". Doch womöglich sitzt das Problem tiefer: Giffey ist in Berlin das Gesicht der SPD und nach zwei Jahrzehnten sozialdemokratischer Regierung scheinen sich immer weniger Menschen substanzielle Veränderungen von der Dauerregierungspartei zu versprechen. Es sind ja nicht nur bundesweit belächelte Pannen wie das Wahldesaster und der Flughafen BER, die den Berlinerinnen und Berlinern auf die Stimmung schlagen. Die Bewohner erleben ihre Stadt im Alltag zu oft als dysfunktional: zu wenig Schulen und Kitaplätze, langes Warten auf Termine im Bürgeramt, eine mit kurzfristigen Sperrungen erratisch agierende Verkehrspolitik, Dauerbaustellen bei den so lebenswichtigen U- und S-Bahn-Verbindungen.
Noch immer arm, aber weniger sexy
Hinzukommt ein kaputter Wohnungsmarkt, der viele Menschen wahlweise in die Verzweiflung oder aus der Stadt treibt. Vom Motto des Giffey-Vorvorgängers Klaus Wowereit "arm, aber sexy" ist trotz beständigen Wirtschaftswachstums viel "arm" geblieben, während Berlins Attraktivität - bei Neuvermietungskosten beinahe auf Münchener Niveau - schwindet. Als Giffey Bürgermeisterin wurde, war der neugewählte Senat durch den erfolgreichen Volksentscheid "Deutsche Wohnen enteignen" zur Zwangsenteignung von Wohnungskonzernen verpflichtet worden. Grüne, Linkspartei und die Mehrheit der Berliner SPD-Basis finden das gut. Giffey lehnt das Instrument der Enteignungen schon aus Prinzip ab.
Die meisten Berliner wären wohl davon zu überzeugen, dass man mit hohen Milliardenbeträgen Sinnvolleres für den Wohnungsmarkt erreichen könnte, als damit Aktienkonzernen ohnehin schon bestehende und vermietete Wohnungen abzukaufen. Dennoch kam der Volksentscheid mit 1,04 Millionen Ja-Stimmen auf fast 50.000 mehr Kreuzchen, als das gesamte rot-grün-rote Regierungsbündnis an Zweitstimmen einsammelte. Das Votum war ein klares Signal, dass sich endlich grundlegend etwas ändern möge in der Hauptstadt. Ein seither vom neuen Senat geschlossenes Bündnis mit der Wohnungswirtschaft, das 20.000 neue Wohnungen pro Jahr zum Ziel hat, ist noch in der Startphase und wird die hochgesteckten Ziele kurzfristig aus einer Vielzahl an Gründen nicht erreichen können. Die Enteignungsaktivisten machen weiter Druck.
Auch andere von Giffey angeschobene Projekte, eine umfassende Verwaltungsreform oder die Digitalisierung der Verwaltung, werden erst nach Jahren spürbare Verbesserungen bringen. Ob Giffeys Ansehen nach fünf Jahren ununterbrochener Regierungszeit besser ausgefallen wäre? Möglich, doch sie muss die Berliner jetzt an die Wahlurnen bewegen. Von denen werden aber deutlich weniger an der Wahl teilnehmen als an der gleichzeitig stattfindenden Bundestagswahl vor eineinhalb Jahren, als die SPD auch im Bundestrend im Aufwind war.
Unerschütterlich wie ihre Stadt
Giffey hat ein echtes Mobilisierungsproblem: Unentschlossene dürften der Wahl fernbleiben, viele Entschiedene nehmen mit dem Ziel der Abwahl des Senats teil und die Begeisterung der eigenen Leute für ihre Spitzenkandidatin hält sich in Grenzen. Im Sommer war Giffey mit gerade einmal 58 Prozent der Stimmen als Landesparteivorsitzende im Amt bestätigt worden, nachdem sie im November 2020 noch 89 Prozent geholt hatte. Zudem hat sich die Partei mehrheitlich gegen den Weiterbau der Stadtautobahn A100 gestellt, während Giffey den entsprechenden Antrag nicht unterstützte. Das Bauprojekt ist im Koalitionsvertrag der SPD-geführten Bundesregierung festgeschrieben.
Die Berliner SPD fremdelt mit Giffey, so wie Giffey mit Teilen der Stadtgesellschaft fremdelt. Sie muss ihre Stimmen vor allem im Westen und in den Randgebieten holen. Da, wo nicht Grüne und Linke dominieren, aber der Wettkampf mit der CDU umso härter ist. Sie muss die Menschen überzeugen, dass sie die bessere Bürgermeisterin der politischen Mitte ist als der Christdemokrat Wegner. Sie wird es bis zum letzten Meter versuchen, sie hat ja schon ganz andere Kämpfe durchgestanden. Diese Stehauf-Attitüde passt tatsächlich gut zu Berlin mit seinen niemals ganz aufzulösenden Problemlagen. Doch wenn das Vertrauen in die Berliner SPD vorerst weg sein sollte, steht die einstige Hoffnungsträgerin ihrer Partei am Sonntagabend vor einem Scherbenhaufen.
Quelle: ntv.de