"Die Menschenjagd ist eröffnet" Im Kongo droht ein neuer Völkermord
09.04.2023, 16:10 Uhr
Soldaten der Demokratischen Republik Kongo in der kongolesischen Region Masisi. Die Übergriffe gegen die dort verbliebenen Tutsi nahmen 2022 dramatisch zu.
(Foto: IMAGO/Xinhua)
29 Jahre nach dem Genozid in Ruanda sehen sich Tutsi erneut als Opfer systematischer und gezielter Verfolgung, dieses Mal in der benachbarten Demokratischen Republik Kongo.
Derzeit zirkulieren in den sozialen Medien grausige Fotos und Videos aus dem Kongo: verstümmelte Leichen im Gras, gefesselte Männer zusammengepfercht in einem Loch. Auf einem Video liegt ein Mensch nackt auf dem Boden, er wird von einer Meute mit Macheten verstümmelt; auf dem nächsten Video stopft sich einer der Männer Fleisch in den Mund und sagt: "Wir essen die Ruander mit Brot."
Die Grausamkeiten, die derzeit an der Tutsi-Minderheit im Kongo begangen werden, erinnern an den Völkermord in Ruanda 1994. Der Beginn dieses Massenschlachtens, bei dem innerhalb von 100 Tagen rund eine Million Tutsi getötet wurden, hat sich am 6. April zum 29. Mal gejährt. Droht fast drei Jahrzehnte später ein weiterer Völkermord an der Tutsi-Minderheit - nur dieses Mal in der benachbarten Demokratischen Republik Kongo?
Die UN-Sonderbeauftragte zur Genozidprävention, Alice Wairimu Nderitu, erklärte Ende 2022 nach einer Kongo-Reise, sie sei "zutiefst beunruhigt". Die aktuelle Gewalt sei ein "Warnsignal". David Karambi, Vorsitzender der Tutsi-Gemeinschaft in der ostkongolesischen Provinz Nord-Kivu, wo die meisten Tutsi leben, sagt: "Der Völkermord ist schon im vollen Gange." Er verweist auf eine lange Liste voller Namen von Tutsi, die im vergangenen Jahr Opfer von Gewalt wurden. Fast täglich müsse er seine Liste aktualisieren, er komme schier nicht hinterher. Erst am Vorabend hätten Agenten des Militärgeheimdienstes in der Provinzhauptstadt Goma in Nord-Kivu eine Bar gestürmt, in welcher Tutsi gerne Bier trinken. Am Tag zuvor seien 34 Tutsi verschleppt worden und spurlos verschwunden. "Es geht nicht nur um die reine Zahl von Opfern", erklärt er. "Von all diesen Taten geht die Botschaft aus: Wir wissen, wo ihr seid!" Ob Restaurants, Bars, Kirchen, Supermärkte - überall dort, wo sich Tutsi gewöhnlich treffen, sei die "Menschenjagd" eröffnet.
"Sie haben Hass gesät"
Doch wer sind die Täter? Der belgische Menschenrechtsanwalts Bernard Maingain, der Tutsi-Gewaltopfer vertritt, hat die Vorfälle untersucht, um die Schuldigen im Kongo vor Gericht zu bringen. Für ihn sind die staatlichen Organe direkt in die Taten involviert. Er nennt als Beispiel einen Polizeikommissar im Ostkongo, der im vergangenen Jahr zu Massentötungen an Tutsi aufgerufen hatte und später sogar befördert wurde. Gegen diesen hat Maingain Klage eingereicht und warnt: Wenn Kongos Justiz den Fall nicht aufnehme, werde er sich an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wenden.
Eine viel größere Gefahr, so Tutsi-Vertreter Karambi, gehe von den zahlreichen Milizen aus, die in dem Bürgerkriegsgebiet seit Jahrzehnten aktiv sind. Im vergangenen Jahr hat die Tutsi-geführte Rebellenarmee M23, die "Bewegung des 23. März", erneut weite Teile der Provinz Nord-Kivu erobert. Als die M23 auf die Provinzhauptstadt Goma vorrückte, rief Kongos Regierung die Bevölkerung auf, sich für die Landesverteidigung zu rüsten. Alle lokalen Milizen wurden von der Armee mit Waffen ausgestattet. "Sie haben absichtlich Hass gegen uns gesät, um sie gegen uns aufzuhetzen", sagt Karambi. Die Armee sei noch nicht "bereit, systematische Tötungen selbst durchzuführen".
Kongos Armee lässt sich von den Völkermördern der FDLR helfen
Die systematischen Angriffe gegen die Tutsi-Minderheit gehen einher mit dem neuen Eroberungsfeldzug der M23-Rebellen. Seit November 2021 erobert die von Tutsi-Generälen angeführte Miliz Teile von Nord-Kivu. Es sind nur rund 1000 Kämpfer, aber sie haben Kongos Armee mehrfach in die Flucht geschlagen. Aus Kongos Hauptstadt hieß es sofort: Ruandas Armee sei einmarschiert. "Ihr Ruander, geht nach Hause!", hieß es daraufhin in Hassreden gegen Tutsi.
Kongos Präsident Felix Tshisekedi lehnt jegliche Verhandlungen mit der M23 ab, beschimpft sie als "Terroristen". Stattdessen greift die Armee im Kampf gegen die Tutsi-Rebellen auf die Hilfe der ruandischen Hutu-Miliz FDLR, der Demokratischen Kräfte zur Verteidigung Ruandas, zurück - eine Gruppierung, die von Tätern des ruandischen Völkermordes geführt wird und die sich seit 1994 im Kongo versteckt.
Die FDLR-Generäle wollten bereits 1994 in ihrer Heimat Ruanda den Plan ausführen, die Tutsi auszulöschen. Doch sie wurden von der Tutsi-Guerilla unter dem heutigen ruandischen Präsidenten Paul Kagame gestoppt und vertrieben. Als Ruandas Hutu-Armee, die 1994 den Völkermord organisiert hatte, nach ihrer Niederlage gegen die ruandische Tutsi-Guerilla in den Kongo floh, verschanzte sie sich dort im Dschungel und in den Bergen der Region Masisi, um sich zu reorganisieren. Aus Angst vor diesen Völkermördern flohen wiederum kongolesische Tutsi-Familien nach Ruanda. In ihre Farmen zogen Völkermordtäter ein, sie organisierten sich neu in der FDLR, quasi wie ein Staat im Staat im Exil.
Die meisten M23 wuchsen in Flüchtlingslagern in Ruanda auf
Wenn man heute die M23 nach ihrer Motivation fragt, dann ist die Antwort meist: "Ich will nach Hause auf unsere Farm, zu unseren Kühen." In der M23 kämpfen Söhne der Farmer aus Masisi, die einst alles zurücklassen mussten. Die meisten M23-Kämpfer wuchsen in Flüchtlingslagern in Ruanda auf, gingen dort zur Schule. Viele haben die ruandische Staatsbürgerschaft oder dienten gar in Ruandas Armee. Doch sie sehen sich als Kongolesen. Immer wieder formierten sie Rebellenarmeen, um ihre Heimkehr mit der Waffe zu erzwingen. Die M23 ist die jüngste davon.

Von November 2022 bis Februar 2023 flohen nach amtlichen ruandischen Angaben 4300 kongolesische Tutsi nach Ruanda.
(Foto: picture alliance / AA)
Geholfen hat dies alles nichts, im Gegenteil. 2022 nahmen Übergriffe gegen die letzten noch verbliebenen Tutsi in den Masisi-Bergen dramatisch zu. Selbst die Rinderherden der Tutsi-Farmer bleiben nicht verschont. Auch davon gibt es Videos: Kälber mit durchgeschnittener Kehle; Kühe, denen man die Achillessehnen durchtrennt hat. "Die Rinder sind unsere finanzielle Absicherung", erklärt der Sohn eines Tutsi-Farmers. "Unsere Rinder zu töten, soll uns im Exil finanziell zerstören, wenn sie unser nicht persönlich habhaft werden können."
Bis heute leben in Ruanda rund 72.000 Flüchtlinge aus Kongo, fast alles Tutsi. Manche sitzen seit 1996 in Lagern fest. Eine ganze Generation ist im Exil geboren. Und die Zahlen steigen wieder. Von November 2022 bis Februar 2023 flohen nach amtlichen ruandischen Angaben 4300 kongolesische Tutsi nach Ruanda.
Die UN bleibt passiv
Ruandas Armee, die ja aus der Tutsi-Guerilla heraus entstand, fühlt sich gegenüber den M23-Kämpfern wie ein "großer Bruder". Man kennt sich, man hat dieselbe Vergangenheit, dieselbe Ausbildung, dieselben Feinde: die Völkermordtäter von 1994, die heutige FDLR. Vor diesem Hintergrund ist die Unterstützung der M23 aus Ruanda ein offenes Geheimnis. Während es der M23 darum geht, ihre Heimatfarmen zurückzuerobern, will Ruandas Armee ihre Erzfeinde in der FDLR kampfunfähig machen.
Während sich die Gewaltspirale im Kongo immer weiterdreht, bleibt die UN-Mission MONUSCO, die mit rund 13.000 UN-Blauhelmen im Kongo vertreten ist, erstaunlich passiv. Dabei ist es ihr Mandat, die Bevölkerung zu schützen. "Die UN hat in ihrer Reaktion auf die Drohungen gegen die kongolesischen Tutsi ein hohes Maß an Widersprüchlichkeit gezeigt", mahnt Bojana Coulibaly. Die Sprachwissenschaftlerin aus den USA erforscht den Konflikt. Es sei auffällig, so Coulibaly, dass in "allen" Berichten der UN-Mission im Kongo seit Juni 2022 "absichtlich jegliche Sprache entfernt" worden sei, die sich "auf gezielte Gewalt und Hassreden gegen die kongolesischen Tutsi bezieht". Dies entspreche quasi "einer "Leugnung des Völkermords, wie wir es 1994 in Ruanda gesehen haben".
Quelle: ntv.de