Völkermord in Ruanda Wie das Töten begann und endete
06.04.2019, 10:16 Uhr
20. Mai 1994: Fischer in der ungandischen Ortschaft Kasensero haben Leichen aus dem Wasser gezogen, die von Ruanda über den Fluss Kagera in den Viktoriasee gespült wurden.
An diesem Sonntag jährt sich zum 25. Mal der Beginn des Völkermordes in Ruanda. In dem kleinen zentralafrikanischen Land wurden in nur hundert Tagen von April bis Juli 1994 mehr als eine Million Menschen ermordet, mehrheitlich Angehörige der Tutsi. Es war eines der blutigsten Verbrechen in der jüngeren Geschichte des afrikanischen Kontinents. Auch Deutschland trägt eine Verantwortung - als ehemalige Kolonialmacht und als einstiger Partner der früheren Hutu-Regierung.
Wir wird der Jahrestag in Ruanda begangen?

Ketten, die Menschen gehörten, die 1994 in einer Kirche umgebracht wurden, liegen bei einem Gedenkgottesdienst auf einem Altar in der Stadt Nyamata südlich von Kigali.
(Foto: AP)
Die Erinnerung an den Völkermord wird in Ruanda jedes Jahr während der hundert Tage nach dem 7. April begangen. Doch in diesem Jahr ist diese offizielle Trauerzeit, in der lokalen Sprache "Kwibuka", Erinnern, genannt, etwas Besonderes: Zum ersten Mal hat die internationale Gemeinschaft im Rahmen der Vereinten Nationen den 7. April zum globalen Gedenktag erklärt. Die ruandischen Botschaften haben nicht nur die Ruander, sondern alle Menschen weltweit zu diesem Tag eingeladen, der Toten zu gedenken und zu mahnen, dass ein solcher Völkermord nie wieder geschehen darf. Dies ist den Ruandern wichtig, denn damals 1994 hat die Weltgemeinschaft weggeschaut und den Völkermord an mehr als einer Million Menschen zugelassen.
Wie ist es überhaupt zu einem solchen Massenmorden gekommen?
Der Völkermord an den Tutsi hat eine lange Vorgeschichte, die schon zu Kolonialzeiten begann. Eingeführt wurde die Unterscheidung zwischen Hutu und Tutsi von den deutschen und später belgischen Kolonialherren. In der ruandischen Vorgeschichte war dies eher ein wirtschaftlicher Klassen-Status: Familien mit mehr als zehn Kühen waren Tutsi, Ackerbauern mit weniger Kühen waren Hutu. Die Europäer dachten aber, dies seien ethnische Unterschiede, und schrieben diese in den Ausweisen fest.

7. Juli 1994: Ein Mitglied der Tutsi-Armee zeigt nach der Befreiung von Kigali einen mit Knüppel mit Nägeln. Waffen wie diese wurden im Völkermord eingesetzt.
Nach der Unabhängigkeit Ruandas 1962 führte die damalige Hutu-Regierung die Diskriminierung der Tutsi-Minderhalt als Politik systematisch fort. Bereits 1959 kam es zu ersten Vertreibungen von Tutsi. In den 1980er Jahren wurde die Rassen-Politik unter dem damaligen Hutu-Präsidenten Juvénal Habyarimana radikaler. Radiosender riefen zu Säuberungen auf, es wurden Gesetze und Gebote gegen die Tutsi festgeschrieben. 1990 begann der Bürgerkrieg: Eine Tutsi-Befreiungsarmee, die sich in den Flüchtlingslagern im nördlichen Nachbarland Uganda unter der Führung des heutigen Präsidenten Paul Kagame gegründet hatte, marschierte ein. Als das Flugzeug mit Präsident Habyarimana an Bord am 6. April 1994 bei der Landung in Ruandas Hauptstadt Kigali abgeschossen wurde, gab die Hutu-Regierung den Tutsi die Schuld und rief über Radio dazu auf, alle Tutsi auszulöschen. Bis heute ist umstritten, wer für den Abschuss des Flugzeugs verantwortlich ist.
Wie wurde der Völkermord gestoppt?
Rund hundert Tage lang trieben Hutu-Milizen und die Armee die Tutsi zusammen. Viele von ihnen suchten Schutz in Kirchen. Die Sammel- oder Fluchtpunkte wurden umzingelt und die Vertriebenen systematisch ermordet, meist mit Macheten, also dem normalen Gartengerät. Hunderttausende wurden in Massengräbern verscharrt. Zwischen der Hutu-Armee und der Tutsi-Guerilla kam es unterdessen landesweit zu Kämpfen, wobei die Tutsi immer mehr Territorium gewannen. Letztlich gab sich die Hutu-Armee geschlagen und flüchtete mitsamt ihrem Kriegsmaterial und der Staatskasse in den Ostkongo. Millionen von Hutu-Bauern fürchteten, der Rache der Tutsi ausgeliefert zu sein, und traten ebenfalls die Flucht in den Kongo an. Es war eine der größten Flüchtlingskrisen des Kontinents.
Welche Rolle spielten die Europäer, vor allem die Deutschen?

23. August 1994: Zwei verwundete Soldaten der ruandischen Armee in einem Hutu-Flüchtlingslager in Ostkongo.
Vor dem Völkermord hatten die Deutschen als ehemalige Kolonialmacht die Hutu-Regierung unterstützt. Zahlreiche Hutu-Funktionäre und Armeeangehörige waren in Deutschland ausgebildet worden. Die Bundesregierung ignorierte oder wollte nicht wahrhaben, dass die Staatsideologie zunehmend rassistischer wurde. Eine zentrale Rolle spielte auch Frankreich, das ebenfalls die Hutu unterstützte und schließlich eine Militäroperation nach Ruanda entsandte - die den Völkermord aber nicht stoppte, sondern mit der Hutu-Armee kollaborierte. Bis heute wirft Ruandas Regierung unter Präsident Kagame den Franzosen vor, Beihilfe zum Völkermord geleistet zu haben. Die Vereinten Nationen hatten damals eine Friedensmission in Ruanda installiert. Der kanadische UN-Kommandant schickte Warnungen an die UN nach New York, doch selbst als das Massenmorden im vollen Gang war, reagierte niemand. Stattdessen wurden die UN-Truppen abgezogen.
Welche Folgen hat dieses Ereignis für das Land und die Menschen bis heute?
Die Folgen des Völkermordes sind bis heute sichtbar. Noch immer sind die Gefängnisse in Ruanda überfüllt, noch immer stehen Täter vor Gericht. Vielen Menschen ist eine Traumatisierung noch immer deutlich anzumerken. Doch die Regierung hat ein ehrgeiziges Wiederaufbauprogramm durchgezogen. Das kleine Land war 1994 nach jahrelangem Krieg fast vollkommen zerstört. Heute sieht man davon kaum mehr etwas. Im Gegenteil: In Ruanda wird an allen Ecken und Enden gebaut, es ist in Sachen Infrastruktur ein Vorzeigeland in Afrika.
Wie geht die jüngere Generation, die nach dem Völkermord geboren ist, damit um?
Die heutigen Jugendlichen sind im relativen Frieden aufgewachsen und versuchen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Die Politik der ethnischen Teilung ist seit dem Völkermord verboten: Heute dürfen die Bürger Ruandas sich nicht mehr als Hutu oder Tutsi definieren, offiziell sind alle nur noch Ruander. Damit wurde die Versöhnung gewissermaßen staatlich vorgeschrieben. Die Jugend wächst mit dem Bewusstsein auf, dass sie aktiv allen zukünftigen Rassendiskriminierungen entgegenwirken muss.
Aber ist Versöhnung zwischen den Menschen überhaupt möglich?
Versöhnung lässt sich nicht erzwingen, doch Hunderttausende Gerichtsverfahren landesweit haben es möglich gemacht, eine Annährung auf lokaler Ebene zu erwirken. Man muss sich vergegenwärtigen, dass damals Nachbarn und Verwandte sich gegenseitig abgeschlachtet haben. Nach dem Völkermord wurden deswegen landesweit Dorfgerichte eingerichtet, die sogenannten Gacaca. Da traf sich jahrelang die Dorfgemeinschaft, und die Täter mussten ihre Taten öffentlich zugeben und die Überlebenden um Vergebung bitten. Dafür bekamen sie weitgehend Amnestie. Wenn man mit Ruandern spricht, sagen die meisten, diese Verfahren haben zur Vergebung und langfristig auch zur Versöhnung beigetragen.
Warum gilt Ruanda heute als relativ stabiles und sicheres Land?
Ruandas Regierungspolitik hat sich ganz klar das Ziel gesetzt, jegliche Rassendiskriminierung in Zukunft aktiv zu verhindern. "Divisionismus" und das Leugnen des Völkermords wird mit hohen Haftstrafen belegt. Dazu wurde das Justizsystem reformiert und eine starke Strafverfolgungsbehörde etabliert sowie eine gut ausgebildete Armee installiert. Denn Ruanda ist nicht ohne Feinde. Noch immer sind die Völkermörder im Nachbarland aktiv. Kommandanten der damaligen Hutu-Armee, die sich in den Ostkongo zurückgezogen hatten, haben dort eine Hutu-Miliz gegründet, die Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas, kurz FDLR, die das Land regelmäßig angreift.
Welche Rolle spielt die FDLR heute?
Die FDLR ist weltweit aktiv und verbreitet bis heute die Völkermord-Ideologie gegen die Tutsi. Diese Miliz und ihr internationales Unterstützungsnetzwerk zu zerschlagen, ist wichtig - für die Versöhnung innerhalb Ruandas und damit Ruandas Regierung eine echte demokratische Öffnung im Inneren zulassen kann. Wichtig ist dies auch für den Frieden in der ganzen Region, denn die Präsenz der FDLR jenseits der ruandischen Grenzen im Ostkongo führt immer wieder zu Kriegen zwischen den Ländern.
Die FDLR-Führung hat enge Beziehungen nach Deutschland. Der FDLR-Präsident Ignace Murwanashyaka und dessen Vize Straton Musoni lebten im Asyl in Deutschland. Sie wurden 2009 in Baden-Württemberg verhaftet und 2011 wegen Kriegsverbrechen und Führung einer terroristischen Vereinigung angeklagt. 2015 wurden sie verurteilt. Das war ein wichtiger Schritt. Der oberste FDLR-General, Silvestre Mudacumura, der im Kongo noch immer rund 400 Kämpfer anführt, wurde in Deutschland in den 1980er Jahren von der Bundeswehr ausgebildet. Die Bundesrepublik trägt daher durchaus eine Verantwortung im Kampf gegen die FDLR.
Quelle: ntv.de