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Kraftwerke unter Beschuss Im schlimmsten Fall muss Kiew evakuiert werden

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Stromausfall in einem Stadtviertel von Kiew.

Stromausfall in einem Stadtviertel von Kiew.

(Foto: IMAGO/NurPhoto)

Russland zielt bei seinen aktuellen Angriffen vor allem auf die ukrainische Hauptstadt, und dort insbesondere auf Heizkraftwerke. Das Worst-Case-Szenario eines Experten sieht so aus: Bei unter minus zehn Grad und ohne Wärmeversorgung müsste Kiew geräumt werden.

Die Lage in Kiew ist derzeit noch halbwegs in Ordnung, jedenfalls verglichen mit den Erfahrungen der ukrainischen Hauptstadt während der bisherigen dreieinhalb Jahre des russischen Angriffskrieges. Planmäßige Stromausfälle sind seit rund einem Monat Alltag. Jeder Haushalt muss pro Tag im Durchschnitt vier Stunden ohne Strom verbringen - im Zeitfenster zwischen 8 und 22 Uhr, in dem der private Stromverbrauch am größten ist. Daher müssen sich die Menschen wieder an das laute Geräusch der Benzingeneratoren gewöhnen. Im vorigen Winter gab es das trotz der russischen Angriffe kaum. Die letzte wirklich komplizierte Phase fiel auf den Sommer 2024, als hohe Temperaturen für Stromausfälle sorgten, die länger als die Hälfte des Tages andauerten.

Dass es schon jetzt, bei deutlichen Plustemperaturen, zu Stromabschaltungen kommt, ist allerdings mehr als besorgniserregend. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die russischen Truppen anders als früher insbesondere Kiew ins Visier nehmen. Zwar gibt es auch weiterhin Angriffe gegen den Westen der Ukraine. Aber die Zahl der Angriffe gegen Kiew mit Hunderten von Drohnen und Raketen seit Beginn der aktuellen Beschusswelle am 10. Oktober spricht eine deutliche Sprache: Es geht den Russen darum, das Leben in der Drei-Millionen-Stadt lahmzulegen. Das nie erreichte Ziel, das ganze Land ins Dunkel zu bomben, haben sie vorerst offenbar aufgegeben.

Russland geht es nicht nur um die Stromversorgung der Hauptstadt, sondern auch um die damit verbundene Lieferung von Wärme und Wasser. Der Beginn der Heizsaison musste in Kiew um zwei Wochen auf Ende Oktober verschoben werden. Weiterhin wird in vielen Kiewer Wohnungen nicht geheizt. Dieses Problem betrifft das ganze Land: Vor Beginn der Angriffe auf Energieanlagen hatte Russland bis zu 60 Prozent der Gasreserven des Landes zerstört. So ist die Ukraine in diesem Winter besonders auf Gasimporte angewiesen, damit es in den Wohnungen einigermaßen warm bleibt. Massive Probleme sind dennoch unausweichlich, wenn es kälter wird.

Prognosen waren zunächst optimistischer

Ursprünglich waren die Prognosen optimistischer. Der harte Schlag vom 10. Oktober kam aber deutlich schwerer als erwartet. Offenbar gelang es den Russen, gleich zwei der wichtigsten Heizkraftwerke der Stadt bedeutend zu treffen, was auch öffentlich nicht bestritten wurde. Die Beschädigungen der Infrastruktur eines der Kraftwerke sollen "kritisch" sein. Jedenfalls sorgte der Angriff gleich für einen nahezu vollständigen Stromausfall im östlichen Teil der Stadt - und zu einer erneuten Auseinandersetzung zwischen Präsident Wolodymyr Selenskyj und dem Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko.

Selenskyj sprach dabei die Tatsache an, dass die Ukraine nicht teure Abwehrraketen gegen vergleichsweise billige russische Drohnen einsetzen sollte, und er wies damit indirekt darauf hin, dass viele der Drohnen ihre Ziele erreichten. Außerdem zeigte er sich unzufrieden damit, wie die Kiewer Kraftwerke geschützt wurden.

Auch die Lage um das große Kohlekraftwerk Trypillja südlich von Kiew bereitet den Bewohnern der Hauptstadt sowie der umliegenden Region große Sorgen. Dieses Kraftwerk wurde bereits im Frühjahr 2024 fast vollständig zerstört, dann jedoch so weit instandgesetzt, dass es wieder funktionierte. Das Kraftwerk gehört zu den wichtigsten in der Ukraine. Es ist der größte Stromlieferant nicht nur für die Kiewer Region, sondern auch für einige Nachbarbezirke wie Schytomyr. Schon vor Beginn der neuen Beschusswelle zählte es zu den wichtigsten Zielen der russischen Angriffe.

"Das wäre eine Katastrophe"

Zu Beginn der Angriffe habe die Hauptstadt über ausreichende Energiekapazitäten verfügt, sagte Ex-Energieminister Iwan Platschkow der ukrainischen Nachrichtenseite Telegraf, "die entsprechenden Netze wurden renoviert". Man müsse sich jedoch im Klaren sein, dass die Sicherheitsreserven nicht mehr so hoch seien wie vor dem Krieg. Die getroffenen Kraftwerke in Kiew seien die wichtigsten Strom- und Heizquellen und es gebe Pläne, die beschädigten Transformatoren und andere Infrastruktur zu ersetzen. "Die Sicherheitsmarge ist aber sehr gering, daher ist die Lage angespannt."

Als Hauptszenario für Kiew gilt es laut den meisten Experten in diesem Winter, je nach Wetter, dass die Stadt rund die Hälfte des Tages ohne Strom verbringen muss. Es kann jedoch auch zu einem Worst-Case-Szenario mit wochenlangen Stromausfällen kommen, sollte Russland weiter nachhaltig und erfolgreich gegen die Infrastruktur in der Hauptstadt schießen.

Eines dieser Worst-Case-Szenarien beschreibt Oleksandr Tchartschenko, Direktor des Zentrums für Energieforschung. "Sollten in Kiew die Heizkraftwerke drei Tage lang bei einer Temperatur von minus zehn Grad und niedriger abgeschaltet bleiben und es keine Perspektive der zeitnahen Wiederherstellung gibt, muss in der Hauptstadt eine Evakuierung angeordnet werden", sagt der renommierte Experte. Das, so Tchartschenko, der nicht für Weltuntergangsprognosen bekannt ist, wäre "eine von Menschen verursachte Katastrophe".

Quelle: ntv.de

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