Politik

Werbung für "Vrijheid" In Amsterdam will Merkel von Kritik am Migrationskurs nichts wissen

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Angela Merkel traf in Amsterdam auf eine große Fangemeinde.

Angela Merkel traf in Amsterdam auf eine große Fangemeinde.

(Foto: IMAGO/ANP)

Auf ihrer Buchwerbetour macht Altkanzlerin Angela Merkel Station in Amsterdam. Auch dort kommt nicht besonders viel Selbstkritik von ihr. Stattdessen verteidigt sie erneut ihre "Willkommenskultur". Bei ihrer Buchvorstellung wird sie vom niederländischen Publikum trotzdem gefeiert.

Schon drei Stunden vor Anfang standen die Polderländer im Regen, warteten auf die deutsche Bundeskanzlerin a.D. Angela Merkel. Die Schlange vor der Buchhandlung Athenaeum war mit einem roten Absperrband markiert. Die Fans wollten ein handsigniertes Exemplar der niederländischen Ausgabe von Freiheit, dem Memoirenband der Kanzlerin, dessen Rechte weltweit verkauft wurden.

Am Spui, direkt neben der Universität, erzählte Künstlerin Ditte Pieterse von ihrer Begeisterung für die Deutsche, von der sie sogar eine Bronzestatue geschaffen hat. Auch der gebürtige Deutsche Dominik Leijnen war froh, eine Übersetzung von "Freiheit" zu ergattern. "Ihre Migrationspolitik war kontrovers, mit ihrem Plädoyer für offene Grenzen, ihr Motto 'Wir schaffen das!', mehr als umstritten", erinnert sich der 36-Jährige.

Später, in der prall gefüllten lutherischen Kirche, sagt Merkel im Gespräch mit dem niederländischen Autor Arnon Grunberg über ihren langjährigen CSU-Gegenspieler Horst Seehofer: "Ich war gegen diese Obergrenze." Seehofer hatte ihre Willkommenskultur immer wieder kritisiert. Der Moderator fragte Merkel, ob ihre schlimmsten Feinde in der eigenen Partei zu finden waren. "Nein, das kann man so nicht sagen", antwortete sie diplomatisch.

Eine Obergrenze für Flüchtlinge, es kamen ab 2015 mehr als anderthalb Millionen, vor allem aus Syrien, und ab 2022 fast ebenso viele Ukrainer, fand sie nicht rechtsstaatlich: "Ich muss jedem Menschen ein faires Rechtsverfahren geben." Andererseits sah sie täglich die Konsequenzen an der Grenze und schloss daraus: "Ich muss alles tun, dass nicht jeden Tag zehntausend neue Flüchtlinge nach Deutschland kommen."

"Sehr kleinkariert von uns"

Dann verweist Merkel auf das EU-Türkei-Abkommen, das sie mit "ihrem Freund" Mark Rutte, damals niederländischer Ministerpräsident, für sechs Milliarden Euro verhandelt hatte. Sie wollte aber die illegalen Migranten nach dem Erreichen einer potenziellen Obergrenze nicht diskriminieren: "Wir können nicht sagen, für dich gilt der Rechtsstaat jetzt nicht."

Präsident Recep Tayyip Erdogan habe, so die langjährige CDU-Parteivorsitzende, zudem drei Millionen Syrerinnen und Syrer aufgenommen. "Ich fand es manchmal sehr kleinkariert von uns, dass wir ihn immer verdächtigt haben, dass die Flüchtlinge das Geld doch nicht kriegen."

Trotz der hohen Kosten für die deutsche Gesellschaft, der Anschläge und des Erstarkens der AfD verteidigte Merkel die Motive der Flüchtlinge. Sie beschrieb "Familien, die zusammen sparten für die Reise, die gefährliche Überfahrt übers Mittelmeer". Sie sprach sich gegen Zynismus aus und für Pragmatismus und Realpolitik. "Wir haben diese illegale Migration sehr stark reduziert", so Merkels Fazit.

Am Mittag hatte die ostdeutsche Pfarrerstochter in der Amtswohnung von Femke Halsema, der Bürgermeisterin von Amsterdam, den "Goldenen Orden" überreicht bekommen. Winston Churchill und Nelson Mandela bekamen den Preis vorher, "Persönlichkeiten, die sozial, kulturell, gesellschaftlich oder ökonomisch außerordentlich viel für Amsterdam bedeutet haben". Nun erhielt ihn Merkel für ihre "Verdienste und ihren Einfluss auf Europa".

Ritt durch Merkels Lebensthemen

Sie bekam den Orden auch aus zwei weiteren Gründen. Zum einen, weil sie "Frauen in der ganzen Welt inspiriert habe". Dazu sagte Merkel lediglich: "Mir hat nicht gefallen, dass der Feminismus Männer auch sehr ausgrenzt."

Zum anderen aber auch, weil sie den "Handelscharakter von Amsterdam" befördert hat. Die niederländische Regierung war glücklich darüber, dass Merkel in ihrer Zeit als Kanzlerin die 15.000 Briefkastenfirmen in Ruhe ließ, in denen Milliarden Euro geparkt waren, um Steuerzahlungen zu vermeiden.

In der Eurokrise stabilisierte Merkel die Banken und den Euro mit Hunderten Milliarden Staatsgeldern. Dafür fand die Ex-Kanzlerin in Amsterdam deutliche Worte. "Führende Vertreter der Marktwirtschaft legten jede moralische Verantwortung ab", sagte sie. Sie hätten die Welt an den "Rand des Zusammenbruchs gebracht". Das sei für sie "eine dramatische Lernerfahrung" gewesen.

Merkels Übersetzerin Anne Folkertsma machte beim Besuch der Ex-Kanzlerin aus ihrer Bewunderung für Merkel keinen Hehl. "Eine außerordentliche Person, die verbindet", sagte sie über Merkel, "auch als Frau aus der ehemaligen DDR". Merkel bemerkte dazu lapidar, dass die Menschen dort "genauso deutsch waren wie die in Westdeutschland". Und die deutsche Einheit habe nicht stattgefunden, weil "die einen die Guten, und die anderen die Schlechten waren".

Am Tagesgeschehen

Auch wenn Merkel selten aktuelle Entwicklungen kommentiert, ließ sie in Amsterdam keinen Zweifel daran, dass sie sich große Sorgen über die aktuelle politische Lage macht: "Wir wissen, dass die Freiheit jetzt mehr unter Druck ist, als uns lieb ist", sagte Merkel. Es wäre schade, so warnte sie, dass "wir erst die Abwesenheit von Freiheit erfahren müssten, bevor wir dafür wieder kämpfen", so das ehemalige Mitglied der DDR-Oppositionsbewegung.

NATO-Chef Rutte warnte kürzlich, dass eine mentale Vorbereitung auf einen Krieg durch Russland nötig sei. "Wir können das mit einer sehr glaubwürdigen Abschreckung verhindern", so Merkel. "Wir müssen sehr schnell sehr viel in Verteidigung investieren, dann funktioniert das." Merkel hatte die Wehrpflicht 2011 ausgesetzt und das Zwei-Prozent-Ziel der NATO nie erreicht. Auch nicht als der Krieg in der Ost-Ukraine 2014 begann.

Nun warb sie eindringlich für das Verteidigungsbündnis: "Ich glaube, dass die NATO nicht nur für die Europäer gut ist." Es liege im eigenen Interesse der Amerikaner, in der NATO zu bleiben, sagte sie, "sonst sind sie sich selbst ausgeliefert".

Nach eineinhalb Stunden standen die Besucher und Besucherinnen in der Kirche erneut Schlange, um ein signiertes Exemplar von Merkels Autobiografie zu ergattern.

Quelle: ntv.de

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