Gegenoffensive oder Ablenkung? In Cherson kündigt sich für die Russen Ärger an


Bei der strategisch wichtigen Antoniwkabrücke konnten ukrainische Truppen Stellungen aufbauen.
(Foto: REUTERS)
Ukrainischen Truppen gelingt es offenbar, den Fluss Dnipro bei Cherson zu überqueren. In dem einst russisch besetzten Gebiet sollen sie bereits Stellungen aufgebaut haben. Das könnte auf einen bevorstehenden Gegenangriff deuten - oder auf ein Ablenkungsmanöver.
Noch ist unklar, wann und wo die ukrainische Gegenoffensive startet. Das ist in Kiews Sinn, denn sonst wäre der Überraschungseffekt weg, der ihnen bei der Gegenoffensive im vergangenen Sommer einen großen Vorteil verschaffte. Seit dem Wochenende heizen Bewegungen in Cherson allerdings Spekulationen an. Dort ist es ukrainischen Truppen gelungen, den Fluss Dnipro zu überqueren. Die US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) bestätigte Berichte mehrerer russischer Militärblogger, nach denen Ukrainer mit Schnellbooten das Ufer auf der von Russen besetzten Südseite des Flusses erreicht haben. Von Bloggern kursieren bereits Bilder, die das belegen sollen.
"Der Feind führt tatsächlich Angriffe auf das linke Ufer mit kleinen Booten durch, die im Rahmen der US-Militärhilfe geliefert wurden", heißt es in einem Telegram-Kanal eines russischen Militärbloggers, der sich Rybar nennt. Nördlich der Kleinstadt Oleschky konnten ukrainische Truppen ungehindert Fuß fassen, berichtet das ISW. Eine zweite Position wurde demnach nahe der strategisch wichtigen Antoniwkabrücke bei Dachi errichtet. Unter Militärbloggern wird bereits hitzig diskutiert, ob die Ukraine es tatsächlich geschafft haben könnte, einen Brückenkopf aufzubauen, und was das für den weiteren Kriegsverlauf bedeutet.
Dass die Ukrainer den etwa 700 Meter breiten Dnipro am helllichten Tage einfach so mit Booten überqueren konnte, ohne angegriffen zu werden, spricht für eine dünne Präsenz russischer Truppen in der Region. Bisher ging man davon aus, dass das linke Ufer des Flusses von russischen Soldaten kontrolliert wird. Die neuen Stellungen der Russen deuten allerdings auf eine fehlende russische Kontrolle hin, betonen Militärexperten. Der von Russland eingesetzte Gouverneur, Wladimir Saldo, dementierte die Erfolge, während die Ukraine sich zu den Berichten bedeckt hält.
Russische Militärblogger kritisieren Bürokratie
Für Russland würde das Überqueren des Flusses durch ukrainische Truppen jedenfalls eine Menge Ärger bedeuten: Der Dnipro dient seit dem Abzug der Russen aus der Stadt Cherson im Oktober als Frontlinie. Ein Durchbruch ukrainischer Streitkräfte über den Fluss wäre ein schwerer Rückschlag für Putin, nachdem Russland erklärt hatte, der Rückzug seiner Truppen erlaube es ihnen, den Fluss als Teil ihrer Verteidigung zu nutzen.
Es zeichne sich bereits jetzt ein gefährlicher Trend ab, schreiben russische Militärblogger auf Telegram. Dass Ukrainer unbemerkt den Fluss überqueren können, weise auf das "Fehlen regelmäßiger Feuereinschläge" des russischen Militärs hin. Das liege an der komplizierten Bürokratie, nach der Artillerieangriffe zu langsam genehmigt werden. "Wir haben wiederholt auf diese Probleme hingewiesen", schreiben die Blogger.
Zum anderen bestehe die Möglichkeit, dass Ukrainer südlich des Flusses Fuß fassen und perspektivisch Richtung Krim vorstoßen könnten, sagt Markus Reisner, Oberst des österreichischen Bundesheers, bei ntv. Schon jetzt seien die Truppen weiter in das Landesinnere vorgedrungen, schreibt das ISW. Das könnten Hinweise auf den Start der angekündigten Frühjahrsoffensive sein.
"Gibt viel bessere Standorte"
Dass es den ukrainischen Streitkräften gelingt, in Richtung Krim durchzumarschieren, hält Reisner allerdings für unwahrscheinlich. "Das Gelände südlich des Flusses ist ein Sumpfgelände mit mehreren Flussläufen, die zu überwinden wären." Sollte sich dort tatsächlich ein Brückenkopf etabliert haben, stelle er momentan keine große Gefahr für die Russen dar. Das könne sich allerdings ändern, wenn es den Ukrainern in den nächsten Wochen und Monaten gelänge, die Stellung weiter auszubauen. "Dann wäre es für die Ukraine möglich, auf der anderen Seite des Dnipro tatsächlich Fuß zu fassen."
Eine Herausforderung für die Ukrainer könnte auch sein, verlässliche Nachschublinien einzurichten. Waffen und Munition müssen über den Fluss gebracht werden, was sie ein leichtes Angriffsziel für die Russen macht. Zudem ist jede ukrainische Bewegung in dem Gebiet, das infolge eines sehr nassen Frühjahrs von Überschwemmungen, Wasserkanälen und anderen Hindernissen durchzogen ist, eine schwierige Aufgabe.
Möglich ist daher auch, dass der ukrainische Vorstoß in Cherson nur ein Manöver ist, um die Russen von anderen Gebieten, wo der eigentliche Angriff stattfinden soll, abzulenken. "Der ukrainischen Armee kommt die Aufmerksamkeit am Flussufer gelegen, denn das bereitet den Russen Kopfzerbrechen bei der Planung und lenkt sie möglicherweise ab", sagte der frühere britische Geheimdienstler Philip Ingram der Zeitschrift "Newsweek".
Diese Taktik hat sich bereits bei der letzten Gegenoffensive bewährt, als die Ukrainer ebenfalls eine Offensive in Cherson angetäuscht und anschließend überraschend in Charkiw angegriffen hatten. Für eine Gegenoffensive wäre der jetzige Vorstoß bei Cherson jedenfalls nicht der ideale Ort, sind sich Experten einig. "Eines ist sicher, schwere Panzer über den Dnipro zu bringen, wäre extrem schwierig und äußerst riskant", sagte Ingram: "Es gibt viel bessere Standorte."
Quelle: ntv.de