Nach Ermordung des Präsidenten In Haiti bricht sich politisches Chaos Bahn
08.07.2021, 20:29 Uhr
Soldaten patrouillieren in Port-au-Prince: Der Präsidenten-Mord sorgt in Haitis Hauptstadt für Unruhe.
(Foto: AP)
Sein Tod hinterlässt ein Machtvakuum: In der Nacht zu Mittwoch ermorden angebliche ausländische Söldner Haitis Präsidenten Moïse. Wer in dem Land nun das Sagen hat, ist äußerst umstritten. Und auch das Attentat an sich bietet Raum für Spekulationen.
Nach der Ermordung des haitianischen Präsidenten Jovenel Moïse droht der von Instabilität und Armut geprägte Karibikstaat noch tiefer ins Chaos abzurutschen. Der designierte Regierungschef Ariel Henry stellte die Legitimität von Interims-Ministerpräsident Claude Joseph infrage, der wenige Stunden nach Moïses Tod den Ausnahmezustand ausgerufen hatte. Die Polizei nahm sechs Verdächtige fest, darunter einen US-Staatsbürger mit haitianischen Wurzeln, wie ein Kabinettsmitglied sagte. Fünf Fahrzeuge wurden den Angaben zufolge beschlagnahmt.
Zuvor hatte die Polizei bereits mitgeteilt, vier Verdächtige seien getötet worden. Nach Angaben eines Regierungssprechers stammten alle vier aus dem Ausland. Weitere mutmaßliche Attentäter seien von Einsatzkräften in zwei Häusern in der Hauptstadt Port-au-Prince eingekreist worden, sagte die UN-Sonderbeauftragte für Haiti, Helen La Lime, in einer Online-Pressekonferenz der Vereinten Nationen. Der Flughafen in Port-au-Prince wurde geschlossen, ebenso die Grenze zur Dominikanischen Republik. "Wir haben die Täter gefasst und suchen nun nach den Drahtziehern", sagte der Chef der Nationalpolizei, Léon Charles.
Der 53-jährige Moïse war in der Nacht zum Mittwoch in seinem Haus in Port-au-Prince erschossen worden. Seine Frau Martine, die bei dem Attentat verletzt wurde, wurde zur Behandlung nach Miami ausgeflogen. Sie sei außer Lebensgefahr, sagte Regierungschef Claude Joseph am Mittwochabend im Fernsehen.
Josephs Kabinett rief nach dem Attentat im ganzen Land den Ausnahmezustand aus. Die Regierung bekommt damit für zwei Wochen zusätzliche Befugnisse. Nun droht das Land mit seinen elf Millionen Einwohnern weiter in politisches Chaos abzugleiten, denn nach Moïses Tod erheben gleich zwei Männer Anspruch auf das Amt des Regierungschefs.
Zwei Interims-Premiers ohne Legitimität
Kurz vor seiner Ermordung hatte Moïse am Montag den Neurochirurgen Ariel Henry zum Interims-Premierminister ernannt. Den Titel hatte seit April Außenminister Joseph inne, der allerdings mangels Parlament nie verfassungsmäßig im Amt bestätigt wurde. Weil Henry bisher nicht vereidigt wurde, nahm Joseph das Heft in die Hand: Er berief eine Sitzung des Ministerrats ein, trat vor die Kameras und unterschrieb Erlasse für 15 Tage Belagerungszustand und Staatstrauer.
In einem Interview mit der Zeitung "Le Nouvelliste" gab sich Henry zurückhaltend. "Ich möchte nicht noch Öl ins Feuer gießen", betonte er. Über Joseph sagte er aber auch: "Meiner Meinung nach ist er nicht mehr Premierminister." Henry bezeichnete den Belagerungszustand als unnötig. Dieser erlaubt es der Regierung unter anderem, das Militär für Polizeiaufgaben einzusetzen und Rechte der Bürger einzuschränken. Die Opposition warf Joseph vor, die Macht an sich gerissen zu haben. Der Menschenrechtsaktivist Gédeon Jean bezeichnete Josephs Eile bei der Ausrufung des Ausnahmezustands als "verdächtig". Er vermute dahinter einen Putschversuch.
De facto haben weder Joseph noch Henry die volle Legitimität. Für den Fall, dass der Präsident ausfällt, sieht die haitianische Verfassung vor, dass der Machtübergang unter der Kontrolle des Parlaments erfolgt. Dieses ist jedoch seit über einem Jahr nicht mehr handlungsfähig, da die Parlamentswahl unter anderem wegen Protesten gegen Moïse im Streit um das Ende seiner Amtszeit mehrfach verschoben worden war. Der 53-Jährige hatte das Land deshalb zuletzt per Dekret regiert.
Moïse, der seit 2017 regierte, war äußerst unbeliebt. Ihm wurden Korruption, Verbindungen zu brutalen Banden und autokratische Tendenzen vorgeworfen. Proteste legten Haiti in den vergangenen drei Jahren immer wieder lahm. Zuletzt trieben blutige Kämpfe zwischen Banden um die Kontrolle über Teile der Hauptstadt Tausende Menschen in die Flucht. Am 26. September sind Präsidenten- und Parlamentswahlen sowie ein Verfassungsreferendum geplant. Joseph hat erklärt, an dem Datum festhalten zu wollen.
Tatablauf wirft Fragen auf
In der Bevölkerung fragen sich nun viele, wie es zum Mord an Moïse kommen konnte. "Wo waren die gut ausgerüsteten Polizisten, die den Präsidenten Tag und Nacht bewachen? Warum haben sie nicht reagiert?", fragte sich die 28-jährige Julia. Tatsächlich scheinen die Angreifer bei der Tat auf wenig Widerstand gestoßen zu sein. Von Verletzungen unter den Polizisten, die zum Schutz des Präsidenten abgestellt waren, wurde nichts bekannt.
Joseph hatte kurz nach der Ermordung des Präsidenten gesagt, bei den Angreifern handele es sich um Englisch und Spanisch sprechende "Ausländer". Haitis Botschafter in den USA, Bocchit Edmond, sprach von "professionellen" Söldnern, die sich als Mitarbeiter der US-Drogenvollzugsbehörde ausgegeben hätten. An der Leiche des Präsidenten wurden nach Angaben des zuständigen Richters Carl Henry Destin zwölf Einschusslöcher gefunden. Moïse sei in den Kopf, in die Brust, die Hüfte und den Bauch getroffen worden. "Das Büro und das Schlafzimmer des Präsidenten wurden durchwühlt." Seine Tochter habe sich im Zimmer ihres Bruders versteckt. Zwei Angestellte seien gefesselt worden.
International löste der Anschlag auf Moïse Entsetzen aus. Das Auswärtige Amt in Berlin äußerte sich "bestürzt". US-Präsident Joe Biden sprach von einem "verabscheuungswürdigen Akt". Der UN-Sicherheitsrat rief vor einer Dringlichkeitssitzung zu Ruhe und Zurückhaltung auf.
Quelle: ntv.de, fzö/AFP/dpa