Flüchtlingsthematik bei Lanz "In der Türkei nimmt Fremdenfeindlichkeit zu"
10.05.2023, 05:09 Uhr Artikel anhören
Geflüchtete an der türkisch-syrischen Grenze. Das schwere Erdbeben im Februar hat die Lage in der Region noch verschärft.
(Foto: picture alliance / abaca)
Die Zahl der Menschen auf der Flucht war der UNO zufolge nie so hoch wie heute. Das stellt die Aufnahmeländer vor Herausforderungen. Bei Markus Lanz erklärt die Journalistin Çiğdem Akyol, wie sich die Stimmung in der Türkei verändert und welche Rolle die Flüchtlingspolitik im Wahlkampf spielt.
Es geht um Milliarden, wenn sich Bundeskanzler Olaf Scholz am heutigen Mittwoch mit den Länderchefs im Kanzleramt zum Flüchtlingsgipfel trifft. Dazu haben die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten einen neuen Entwurf erarbeitet. Die Länder fordern, der Bund solle ihnen die Kosten für Unterkunft und Heizung für Geflüchtete zurückzahlen. Außerdem wollen sie eine flüchtlingsbezogene monatliche Pro-Kopf-Pauschale. Die könnte nach einer Forderung der Länderfinanzminister bei 1000 Euro liegen. Schließlich wollen die Länder, dass der Bund mehr als bisher für die Integration aller Flüchtlinge sowie für die Betreuung unbegleiteter Minderjähriger zahlt. Die Bundesregierung ist sich uneins. Die Grünen sind dafür, dass es mehr Geld für die Länder gibt, Bundesfinanzminister Lindner ist dagegen. Im ZDF-"heute journal" forderte er stattdessen, irreguläre Einwanderung zu vermindern. Zudem setzt er sich für den Schutz der EU-Außengrenzen ein, notfalls mit Zäunen.
"Geografisches Problem"
Norbert Röttgen hält von dieser Idee wenig. Die Sicherung der EU-Außengrenzen durch Zäune sei "aus geografischen Gründen unmöglich", sagt der CDU-Außenpolitiker bei Markus Lanz. Ein Teil dieser Grenzen verlaufe schließlich durch den Atlantik. Ansonsten ist er sich mit Lindner einig: "Das Geld ist nicht das Problem, das Geld ist das Symptom", sagt er. Das Problem sei die Politik an sich. Bund und Länder verlieren nach Röttgens Meinung gerade die Kontrolle über die Situation. "Das wäre eine Erschütterung der Autorität des Staates und seiner Legitimation, wenn das erfolgt", sagt er. Röttgen fordert eine europäische Lösung der Flüchtlingsproblematik. Darauf müsse die Bundesregierung hinwirken. "Das hat viel mit Solidarität zu tun, und wir haben ein Solidaritätsproblem in Europa."
Flüchtlingsproblem Wahlkampfthema in der Türkei
"Wohin mit all den Flüchtlingen?" Das fragen sich auch viele Menschen in der Türkei, wo am Sonntag ein neuer Präsident gewählt wird. Beobachter erwarten ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Präsident Recep Erdogan und seinem Herausforderer Kemal Kilicdaroglu. Der steht einem Oppositionsbündnis aus sechs Parteien vor. Er selber gehört der linksliberalen Sozialdemokratischen Partei an. Und er hat ein Ziel: Innerhalb von zwei Jahren sollen die meisten in der Türkei lebenden Flüchtlinge in ihre Heimat Syrien abgeschoben werden. Dafür will sich die Türkei am Wiederaufbau des Landes beteiligen, in dem seit zwölf Jahren ein brutaler Bürgerkrieg tobt. Der ist offiziell noch nicht zu Ende.
"Die Türkei hat vier Millionen Flüchtlinge aufgenommen, so viele wie kein anderes Land auf der Welt. Das muss man würdigen", sagt Buchautorin und Journalistin Çiğdem Akyol. Zunächst seien die Menschen mit offenen Armen begrüßt worden. Mittlerweile habe unter der harten Wirtschaftskrise in der Türkei auch die Gastfreundschaft gelitten. In der Gesellschaft nehme die Fremdenfeindlichkeit zu, und besonders linksgerichtete Politiker stellen laut Çiğdem Akyol harte Forderungen wie Reisebeschränkungen oder höhere Strompreise für Flüchtlinge. Erdogans Herausforderer könnte den Flüchtlingsdeal mit der EU infrage stellen, der zu den hohen Flüchtlingszahlen geführt hat, meint die Buchautorin.
Erdogan nennt sie einen "begnadeten Wahlkämpfer", während sein Herausforderer als eher schüchtern gilt. Dennoch habe er eine reelle Chance, die Wahlen für sich zu entscheiden und die Türkei wieder mehr in Richtung EU zu führen. Selbst die Wiedereinführung einer parlamentarischen Demokratie sei nicht ausgeschlossen.
Akyol ist jedoch fast sicher, dass Erdogan die Präsidentschaftswahlen für sich entscheidet. "Gerade nach dem Erdbeben vor einigen Wochen weiß man, was man an ihm hat: Man kann sich in Krisen auf ihn verlassen." Vorstellbar sei auch, dass die Wahlen wiederholt würden, sollte Erdogan nur knapp verlieren. Für den Präsidenten sei der Machterhalt auch persönlich wichtig, sagt Akyol. Gegen ihn sind immer wieder Korruptionsvorwürfe laut geworden.
Quelle: ntv.de