Olga Sadowskaja im Interview "Jeder kann in Russland Opfer von Folter werden"
02.09.2023, 09:17 Uhr Artikel anhören
"Das ist moderne Sklaverei, dies ist die Wiederbelebung dieses Sklavengefängnissystems", sagt Olga Sadowskaja.
(Foto: picture alliance / Russian Look)
Der Kreml soll grundlos Tausende Ukrainer verhaften und sie in Strafkolonien stecken, um sie entweder an der Front oder als Zwangsarbeiter einzusetzen. Insgesamt nehmen Repressionen und Folter zu, selbst von einem neuen Gulag-System ist die Rede.
Olga Sadowskaja ist die stellvertretende Vorsitzende der Nichtregierungsorganisation "Team gegen Folter" in Russland. Zusammen mit ihren Kolleginnen und Kollegen deckt sie Fälle von Folter auf und führt Prozesse gegen die Polizei und andere Behörden. Im Interview erklärt sie, warum Folter in Russland eine lange Tradition hat, welche Methoden besonders gerne angewendet werden und warum sie trotz des enormen Drucks nicht daran denkt, das Land zu verlassen.
ntv.de: In Russland soll gerade ein Gulag-System aufbaut werden, berichtet die Nachrichtenagentur AP. 40 dieser "besonderen Gefängnisse" soll es schon geben. Was wissen Sie darüber?
Olga Sadowskaja: Nun, was bedeutet Gulag-System? Tatsächlich sind damit Arbeitslager gemeint. Das ist moderne Sklaverei, dies ist die Wiederbelebung dieses Sklavengefängnissystems, das es schon mal gab in Russland. Der Staat steht vor gewaltigen Aufgaben, zum Beispiel beim Bau von Straßen. Die einfachste Lösung ist, man nimmt jemanden, den man nicht bezahlen muss. Sträflinge sind besonders "praktisch", weil sie sich nicht beschweren und keine Verteidiger haben. Und wenn man solch eine angebotene Arbeit ablehnt, dann drohen Strafen wie Einzelhaft oder man wird einfach zusammengeschlagen.
Auch Tausende Ukrainer sollen als Arbeitssklaven ausgenutzt werden. Was wissen Sie darüber?
Darüber ist uns nur sehr wenig bekannt. In der Tat erhalten wir innerhalb Russlands Informationen nur aus externen Quellen, weil es keinen Zugang zu Menschen gibt, die in Gefängnissen festgehalten werden und aus der Ukraine dorthin gekommen sind. Weder von Menschenrechtsverteidigern noch von Vertretern von Überwachungskommissionen. Das heißt, wir wissen nicht, wer diese Menschen sind und wo sie festgehalten werden.
Wie verbreitet ist Folter in russischen Gefängnissen generell?
In Russland gibt es traditionell viel Folter im Gefängnissystem, das kommt aus der Tradition der Gulags. Die Menschen wurden hier entmenschlicht. Die Gefangenen wurden von den Mitarbeitern dieser Lager nicht mehr als Menschen wahrgenommen. Und wenn du einen Menschen entmenschlichst, dann wird es einfacher, Gewalt gegen ihn anzuwenden. Deswegen gab es auch den Begriff des Staatsfeindes.
Aktuell arbeiten ganze Generationen von Menschen in Russland im Gefängnissystem, nicht weil sie die Arbeit dort lieben, sondern weil sie einfach nirgendwo sonst Geld verdienen können. Gefängnisse und Kolonien sind oft in ganz abgelegenen Gebieten, weit weg von Großstädten. Dieses System verschlingt Menschen und verwandelt sie vollständig. Und dann stehst du plötzlich vor der Entscheidung: Entweder du bist ein Gefangener, dann bist du das Opfer und du wirst geschlagen. Oder aber du bist ein Aufseher und dann hast du Macht. Diese beiden Rollen sind sehr schwer herauszubekommen.
Wird in bestimmten Gefängnissen in Russland besonders viel gefoltert?
Aktuell sind in Russland 800.000 Menschen im Gefängnis. Es gibt Kolonien, die gemeinhin als Folterkolonien bekannt sind. Wir arbeiten zum Beispiel in der Region Nischni Nowgorod, dort gibt es die 14. Kolonie, die als Folterkolonie sehr bekannt ist. Jeder weiß, wenn du dorthin versetzt wirst, bedeutet es, dass sie Druck auf dich ausüben wollen. Aber selbst in Kolonien ohne Folter ist allein schon die Inhaftierung mit Gewalt verbunden. Es gibt eine demütigende Leibesvisitation, du wirst entkleidet, in unbequeme Positionen gebracht, du verlierst all deine Habseligkeiten. Ein Mensch, der im Gefängnis landet, soll verstehen, dass er ein Niemand ist.
Es gibt eine Folter-Methode, die nennt sich "Anruf bei Selenskyj", was ist das?
In Russland nennt man das "Anruf bei Putin". Das scheint überall eine andere Bezeichnung zu haben. Das ist Folter mit Elektroschocks. Die Drähte werden entweder mit den Fingern oder Teilen der Ohren, manchmal mit den Genitalien verbunden und dann lassen sie den Strom fließen. Dies ist eine gängige Folter-Methode, weil es recht einfach und effizient ist. Man braucht dafür keine körperliche Kraft und es hinterlässt minimale Spuren. Eine Person kann Schläge lange ertragen, aber niemand hält Folter mit Elektroschocks über Stunden aus. Es gibt eine Folterart, die nennt man den "Gang in den Laden". Da wird einem eine Plastiktüte auf den Kopf gesetzt und es kommt zu einer Strangulation. Es gibt eine andere Folter unter dem Namen Elefant. Dann setzen sie eine Gasmaske auf und stoppen die Luftzufuhr.
Für all diese schrecklichen Dinge gibt es oft sehr niedliche oder lustige Namen. Übrigens genauso auch bei Gegenständen. Der Polizeiknüppel, mit dem Menschen während der Haft oder bei Kundgebungen geschlagen werden, heißt "Zärtlichkeit Zwei". Das können sich nur Menschen ausdenken mit einem besonderen Sinn für Humor.
Warum wird gefoltert?
Sehr oft wird Folter eingesetzt, um Macht zu zeigen und nicht um wirklich wahrheitsgemäße Informationen herauszufinden. Und um einen Menschen zu zwingen, etwas zu gestehen und seine Arbeit als getan zu betrachten. Das heißt, wenn irgendwo ein Diebstahl stattfindet, nimmt ein Polizeibeamter eine Person fest, die kürzlich wegen Diebstahls aus dem Gefängnis entlassen wurde. Selbst wenn dieser Mensch nichts damit zu tun hat, wird er 24 Stunden lang geschlagen. Dann soll er ein Geständnis unterschreiben, dass er es war. Damit ist der Fall abgeschlossen. Die Polizisten müssen nicht mit Zeugen sprechen, irgendwohin fahren, nach gestohlenen Dingen zu suchen. Die Behörde kann den Fall nach 24 Stunden schließen. Das Problem mit der Kriminalität wird dadurch natürlich nicht gelöst.
Steckt hinter den vielen Folterfällen ein großes System, spielt Präsident Putin dabei auch eine Rolle?
Global gesehen sind alle mit diesem System zufrieden, denn wenn den Leuten an der Spitze des Staates etwas nicht passt, würden sie es verändern. Es gibt ein sehr häufiges Missverständnis, wonach Macht auf Gewalt basiert. Und wenn die Regierung gut, tolerant und demokratisch ist, dann denkt sie, sie verliert sofort ihre Stärke. In vielen autoritären Staaten ist die Macht oft auf Gewalt aufgebaut. Die Mächtigen glauben, dass nur Gewalt und Angst ihre Garantie dafür sind, dass ihre Macht weiter existieren wird. Daher ist in dieser Situation jeder mit allem zufrieden. Niemand von den Mächtigen will in Russland zugeben, dass Folter ein systemisches Problem ist und etwas dagegen unternommen werden muss. Übrigens steigen auch die Zahlen bei der häuslichen Gewalt.
Wie sieht Ihre Arbeit beim "Team gegen Folter" aus und wie frei können Sie in Russland überhaupt noch arbeiten?
Wir beschäftigen uns mit der Untersuchung von Foltervorwürfen. Eigentlich ist dies die Aufgabe des Staates, denn Folter ist Gewalt, die immer von einem Vertreter des Staates angewendet wird. Aber der Staat will das nicht. Im Allgemeinen gibt es keine Fälle von Beschwerden über Folter. Deshalb machen wir das. Wir nehmen diese Beschwerden seit mehr als 20 Jahren entgegen. Wir verwenden unsere eigene Methodik, um jeden Fall zu untersuchen, und wir sammeln Beweise. Wir versuchen so viele Beweise zu sammeln, dass die Behörden keine andere Wahl haben, als den jeweiligen Fall vor Gericht zu bringen.
Wir arbeiten auch viel mit den Medien zusammen und versuchen den Menschen zu vermitteln, dass es keine Situation gibt, in der Folter gerechtfertigt ist. Und wir sagen: Jeder von euch kann zum Opfer werden. Du kannst eine Frau, ein Mann, ein Kind, ein alter Mann, ein Armer, ein Reicher, ein Asiat, ein ethnischer Slawe sein. Auch für einen hochrangigen Beamten oder einen Lehrer gibt es keine Ausnahmen. Jeder kann zum Opfer werden. Wir sagen zynisch: Folter ist in Russland ein sehr demokratisches Verbrechen, es ist für jeden zugänglich. Das heißt, jeder kann in Russland Opfer von Folter werden.
An wie vielen Fällen arbeiten Sie momentan?
Wir arbeiten gleichzeitig an etwa 80 bis 100 Fällen, für mehr haben wir kein Personal und kein Geld. Zusätzlich untersuchen wir alle zehn Jahre, wie weit verbreitet Folter in Russland ist. Unsere neueste Studie von vor drei Jahren zeigt: Jede zehnte Person in Russland war schon mit staatlicher Gewalt konfrontiert. Das ist eine sehr große Anzahl von Menschen.
Sie sind für das Regime in Russland sehr unbequem, haben Sie manchmal Angst, selbst in Haft zu landen?
In Russland gibt es einen Witz: Ein Russe wird nicht gerne zur Arbeit gezwungen. Und genau das tun wir. Deshalb sind wir sehr unangenehme Menschen für die russischen Behörden. Der Druck wird immer größer, denn viele Menschenrechtsorganisationen haben Russland verlassen und so richtet sich die Aufmerksamkeit der staatlichen Stellen immer mehr auf uns. Wir sehen aber keinen Rückgang der Zahl der Menschen, die sich an uns wenden, und wir verstehen, dass wir für diese Menschen die einzige Hoffnung sind, irgendeine Art von Gerechtigkeit und Hilfe zu bekommen. Wir haben einen Fonds, aus dem wir den Opfern auch medizinische und psychologische Hilfe anbieten können. Der Staat leistet diesen Menschen keine Hilfe.
Wie fühlen Sie sich aktuell in diesem Spannungsverhältnis?
Ich fühle mich ziemlich gut, weil ich verstehe, dass ich mir das selbst ausgesucht habe. Ich verstehe die Risiken, denen ich ausgesetzt bin. Vor zwei Monaten wurde zum Beispiel mein Haus durchsucht. Aber ich verstehe auch, warum ich das alles tue. Mir ist der Sinn wichtig, warum ich lebe, warum ich meinen Job mache. Die Menschen, denen wir helfen, sind absolut macht- und wehrlos. Ich glaube, dass ich kein Recht habe, einen Menschen mit dem Staat allein zu lassen.
Warum wurde Ihr Haus durchsucht?
Es ging dabei um ein Strafverfahren gegen einen unserer Klienten. Die Person hat sich Hilfe suchend an uns gewandt, weil sie möglicherweise gefoltert wurde. Aber eigentlich ist das einfach ein Druckmittel. Wenn du durchsucht wirst, bedeutet es, dass um sechs Uhr morgens acht Personen bei dir einbrechen. Man selbst schläft noch, die Kinder schlafen. Also kommen diese Leute angerannt und fangen an, in Schränken zu wühlen. Das ist auch eine Methode des psychischen Drucks - und danach muss man auch noch alles aufräumen.
Sie haben Ihren Humor nicht verloren.
Nun, wenn man das nicht auch mit Humor sieht, dann wird es allgemein schwierig, das Leben zu leben. Um ehrlich zu sein, denke ich, dass Humor eine großartige Möglichkeit ist, eine stressige Situation zu bewältigen.
Wie ist aktuell die Stimmung in Russland, wie fühlen sich die Menschen?
Mir scheint, dass sich jeder schlecht fühlt, völlig unabhängig davon, wie eine Person zu den Ereignissen in der Ukraine steht. Es ist nicht klar, was morgen, in einer Woche, in einem Monat passieren wird. Und diese Unsicherheit verursacht ein enormes Maß an Stress bei allen Menschen. Vor einem Monat wurden einige Statistiken veröffentlicht, wonach sich die Zahl der Antidepressiva-Nutzer im vergangenen Jahr verdreifacht hat. Und das, obwohl man in Russland traditionell nicht gerne zu einem Psychotherapeuten geht. Das Land stürzt in eine Depression, wie mir scheint.
Kann man sagen, wie viele Russinnen und Russen tatsächlich den Krieg unterstützen?
Vor einigen Monaten wurde eine Umfrage veröffentlicht, in der es hieß, etwa 70 bis 75 Prozent der Menschen würden die spezielle Militäroperation unterstützen. Aber wenn Sie sich die Zahlen genauer anschauen, sehen Sie, dass drei von vier Personen sich geweigert haben, die Frage zu beantworten. Nur 25 Prozent haben die Frage beantwortet. Von diesen sprach sich ein weiteres Viertel dagegen aus, und 75 Prozent sprachen sich dafür aus.
Die meisten Menschen stehen einfach morgens auf, gehen zur Arbeit, bekommen ihren Lohn, spielen am Wochenende mit den Kindern, fahren in den Urlaub. Aber jetzt sind die vorherrschenden Gefühle in Russland Angst und Unsicherheit.
Haben Sie mit dem Gedanken gespielt, das Land zu verlassen?
Ich habe mich für diese Arbeit entschieden. Aus 3000 Kilometern Entfernung ist es unmöglich, die Rechte von jemandem zu verteidigen, der von der Polizei geschlagen wurde, das ist einfach unglaubwürdig. Ich ziehe es immer noch vor, Menschenrechte zu verteidigen, und deshalb bleibt unser gesamtes Team in Russland und arbeitet mit Menschen, die wir nicht allein lassen können mit dem Staat. Diese Menschen haben sonst keinen Schutz.
Mit Olga Sadowskaja sprach Dimitri Blinski
Quelle: ntv.de