Vergleich mit Jugoslawienkrieg Migrationsforscher erwartet keine große Rückreisewelle von Syrern
11.12.2024, 08:41 Uhr Artikel anhören
Knapp eine Million Syrer leben in Deutschland.
(Foto: picture alliance / Jochen Tack)
Viele Syrer in Deutschland haben den Sturz des Assad-Regimes gefeiert. In die Heimat zurückkehren wird ein Großteil dennoch nicht, glaubt ein Migrationsforscher. Er verweist auf Erfahrungen aus vergangenen Konflikten - und die hohe Anzahl hier verwurzelter Kinder.
Der Migrationsforscher Jochen Oltmer hat nach dem Sturz von Machthaber Baschar al-Assad in Syrien vor übertriebenen Erwartungen an eine Rückkehr vieler syrischer Kriegsflüchtlinge aus Deutschland in ihre Heimat gewarnt. "Eine größere Rückkehrwelle syrischer Menschen aus Deutschland in ihre Heimat ist unwahrscheinlich", sagte der Osnabrücker Professor der "Augsburger Allgemeinen". Er verwies auf die Erfahrungen aus dem Jugoslawienkrieg.
Schon nach Ende des Kriegs in Bosnien und Herzegowina mit dem Dayton-Abkommen von 1995 habe es kaum freiwillige Rückkehrer gegeben, sagte der Historiker, der unter anderem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wissenschaftlich berät. "Bis 1999 kehrten von den 350.000 Schutzsuchenden lediglich 17.000 an ihre ursprünglichen Wohnorte zurück."
Es werde "sicher einige Rückkehrwillige geben, wenn sich die Lage in Syrien stabilisieren sollte", fuhr Oltmer fort. "Aber diese Zahl sollte man nicht überschätzen." Er betonte: "Alle Erfahrungen zeigen, dass geflüchtete Menschen sehr viele Bindungen in der Ankunftsgesellschaft entwickeln."
Allein in deutschen Schulen gebe es rund 250.000 Schülerinnen und Schüler mit syrischem Hintergrund. "Diese Zahl entspricht mehr als einem Viertel der rund 970.000 in Deutschland lebenden Syrer", sagte der Migrationsforscher. "Diese jungen Menschen haben enge Bindungen an Deutschland, genauso wie ihre Eltern, die für ihre Kinder eine stabile Zukunft suchen", fuhr Oltmer fort. "Rückkehrprogramme übersehen oft diese Verwurzelung in der neuen Gesellschaft."
Bindungen an die Aufnahmegesellschaft entwickelten sich mit der Zeit durch Bildung, Arbeit und soziale Netzwerke. "Das sehen wir auch an den steigenden Zahlen: 2023 machten Syrer fast 40 Prozent der Einbürgerungen aus", sagte Oltmer. "Diese Menschen sehen Deutschland als ihre neue Heimat."
Rückkehrdebatten "oft unnötig"
Er warnte zudem, dass Rückkehrdebatten wie die aktuelle "oft unnötig" seien. Sie "verunsichern diejenigen, die sich längst integriert haben", sagte der Forscher. Unternehmen, Schulen und Kommunen hätten viel in die Integration investiert. "Diese Erfolge durch Rückkehrforderungen zu gefährden, wäre kontraproduktiv", fuhr Oltmer fort. "Stattdessen sollten wir die Potenziale dieser Menschen nutzen und die Bindungen weiter stärken - das ist langfristig der beste Weg für alle Beteiligten."
Die islamistische Gruppierung Hajat Tahrir al-Scham (HTS) und mit ihr verbündete Milizen hatten am 27. November eine Großoffensive im Norden Syriens gestartet und am 8. Dezember mit dem Einmarsch in Damaskus den seit Jahrzehnten herrschenden Machthaber Assad gestürzt.
Seitdem wird in mehreren Aufnahmestaaten über die Rückkehr syrischer Flüchtlinge in ihr Heimatland diskutiert. Deutschland und mehrere andere europäische Länder legten ihre Asyl-Entscheidungen für Syrerinnen und Syrer vorerst auf Eis.
Quelle: ntv.de, rog/AFP