Beihilfe zum Mord in 3518 Fällen NS-Prozess gegen Hundertjährigen beginnt
04.10.2021, 18:10 Uhr
Das Wach- und Schießstandgebäude der SS-Einheiten des KZ Sachsenhausen, in dem der Angeklagte arbeitete.
(Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild/POOL)
Er soll laut Anklage "wissentlich und willentlich" an der Ermordung von Tausenden KZ-Insassen mitgewirkt haben - mit dem Einsatz von Giftgas und Erschießungen. Der hundertjährige Ex-Wachmann muss sich nun für seine Taten im Konzentrationslager Sachsenhausen verantworten.
Vor dem Landgericht Neuruppin in Brandenburg beginnt am Donnerstag ein weiterer Prozess gegen einen mutmaßlichen NS-Täter. Dem hundertjährigen ehemaligen Wachmann des Konzentrationslagers (KZ) Sachsenhausen wird in der Anklageschrift Beihilfe zum Mord in 3518 Fällen vorgeworfen. Nach dem Auftakt des Prozesses gegen eine 96-jährige frühere Sekretärin des KZ Stutthof im schleswig-holsteinischen Itzehoe, den dieses am Donnerstag durch ihre zeitweise Flucht verzögerte, handelt es sich um das zweite NS-Verfahren, das binnen wenigen Tagen beginnt.
Laut Staatsanwaltschaft gehörte der Angeklagte dem Wachbataillon des Lagers Sachsenhausen, in dem die SS ein großes Kontingent stationiert hatte, bis 1945 an. Das Lager nördlich von Berlin war ein Ausbildungsort für Wachpersonal und Kommandanten der Konzentrationslager im gesamten NS-Terrorsystem. Insgesamt wurden dort über die Jahre rund 200.000 Menschen gefangen gehalten. Zehntausende Häftlinge starben an Hunger und Krankheiten, durch Zwangsarbeit, medizinische Versuche und Misshandlungen sowie systematische Vernichtungsaktionen der SS.
Im August 1941 wurde zudem eine Genickschussanlage errichtet, in der mindestens 13.000 sowjetische Kriegsgefangene ermordet wurden. Um 1945 die Befreiung der Häftlinge durch die vorrückende Rote Armee zu verhindern, trieb die SS mehr als 30.000 verbliebene Insassen auf Todesmärsche. Dabei starben noch einmal tausende Gefangene. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Mann vor diesem Hintergrund vor, zwischen 1942 und 1945 "wissentlich und willentlich" an der Ermordung von Lagerinsassen mitgewirkt zu haben. Dabei gehe es unter anderem um die Erschießung von sowjetischen Kriegsgefangenen, die Ermordung von Häftlingen durch den Einsatz von Giftgas und die Tötung "durch die Schaffung und Aufrechterhaltung von lebensfeindlichen Bedingungen".
Laut Gutachten ist Hundertjähriger verhandlungsfähig
Der Angeklagte soll einem Gutachten zufolge trotz seines hohen Alters verhandlungsfähig sein - aber nur für zwei bis zweieinhalb Stunden am Tag. Deshalb wurden nach Gerichtsangaben bis Januar 22 Verhandlungstage angesetzt. Aus organisatorischen Gründen findet der Prozess in einer Veranstaltungshalle in Brandenburg an der Havel statt. In den vergangenen Jahren gab es in Deutschland noch einmal eine Reihe von Anklagen und Prozessen gegen ehemalige Angehörige der Wach- und Verwaltungsmannschaften verschiedener Todes- und Konzentrationslager.
Vier Prozesse gegen ehemalige Mitglieder von Lagermannschaften der Vernichtungslager Sobibor, Stutthof und Auschwitz endeten mit Verurteilungen. Zuletzt verurteilte das Landgericht in Hamburg vor etwas mehr als einem Jahr im Juli 2020 einen 93-jährigen früheren Stutthof-Wachmann wegen Beihilfe zum Mord in 5232 Fällen zu einer Jugendhaft von zwei Jahren auf Bewährung.
Am Donnerstag begann vor dem Landgericht in Itzehoe zudem der Prozess gegen eine ehemalige Sekretärin des früheren Konzentrations- und Vernichtungslagers Stutthof wegen tausendfacher Beihilfe zum Mord. Es kam jedoch nicht zur Verlesung der Anklageschrift, weil die Frau nicht vor Gericht erschien. Sie setzte sich von ihrem Wohnort Quickborn nach Hamburg ab, wurde nach mehrstündiger Flucht in der Hansestadt festgenommen und kam in Untersuchungshaft. Der Prozess soll nun am 19. Oktober fortgesetzt werden.
Außerdem laufen noch mehrere Ermittlungen gegen Verdächtige. In einigen Fällen gab es zuletzt außerdem Anklagen, die aufgrund von gesundheitlichen Problemen der Beschuldigten letztlich nicht zu Prozessen führten. Verursacht wurde der Anstieg der Zahl von NS-Prozessen in den vergangenen Jahren durch eine geänderte juristische Sichtweise. Früher galt der Nachweis einer direkten persönlichen Beteiligung an Tötungen als Bedingung für eine Strafverfolgung. In jüngerer Zeit setzte sich eine alternative Rechtsprechung durch. Danach sind bereits rein unterstützende Tätigkeiten im Rahmen einer auf einen systematischen Massenmord ausgerichteten Lagerlogistik als Mordbeihilfe zu werten und können entsprechend geahndet werden.
Quelle: ntv.de, lve/AFP