Wie Corona Indien überrollt "Neu-Delhi ist apokalyptisch"
28.04.2021, 15:31 Uhr
Am Dienstag meldete Indien den sechsten Tag in Folge mehr als 300.000 neue Fälle innerhalb von 24 Stunden.
(Foto: picture alliance/dpa/SOPA Images via ZUMA Wire)
Seit Tagen sorgt die zweite Corona-Welle in Indien für Schlagzeilen. Die Krankenhäuser sind überlastet, es ist kaum noch Sauerstoff vorhanden, Menschen sterben auf der Straße. Naresh Fernandes lebt in Bombay und Arunabh Saikia in Guwahti. Sie arbeiten beide für die unabhängige Online-Nachrichtenseite scroll.in. Im Interview mit ntv.de berichten sie über die verheerende Situation in Indien.
ntv.de: Seit Tagen gibt es Berichte über die dramatische Situation in den Krankenhäusern in Indien, vor allem in Neu-Delhi. Wie erleben Sie das?
Saikia: Neu-Delhi ist apokalyptisch. Nur so lässt sich die Situation beschreiben. Obwohl es eine der besten Gesundheitsinfrastrukturen des Landes hat, bricht sie gerade zusammen. Jeden Tag höre ich von Freunden, die einen Platz im Krankenhaus suchen oder auf der Suche nach Sauerstoff sind. Alles ist Mangelware. Delhi ist wahrscheinlich der schlimmste Ort, an dem man im Moment sein kann. Ein ehemaliger Kollege von mir, der erst 35 Jahre alt war, ist gestern in einem Krankenhaus gestorben. Es ist schwer, in Indien jemanden zu finden, der in den letzten Wochen nicht einen geliebten Menschen verloren hat.
Warum ist die Situation in Neu-Delhi besonders schlimm?
Saikia: Das Hauptproblem ist der enorme Bedarf an Sauerstoff. Es hat einen so großen Anstieg an Fällen gegeben, dass sie nicht mehr genug davon haben, um die Menschen zu behandeln. Sie haben versucht, industriellen Sauerstoff für medizinische Zwecke umzuleiten. Aber es gibt auch noch andere Probleme: Die meisten der Sauerstoffanlagen befinden sich in Ost- und Westindien. Sie müssen also Sauerstoff zu den am meisten betroffenen Orten transportieren, weil diese selbst keinen Sauerstoff produzieren können.
Fernandes: Es ist sogar ein Schwarzmarkt für Sauerstoff entstanden. Sauerstoff wird zwar auch aus dem Ausland eingeflogen, um unser System am Laufen zu halten. Aber das ist nur eine vorübergehende Lösung. Wir müssen anfangen, selbst mehr zu produzieren. Die Leute sterben also nicht an Covid-19, sondern an der fehlenden Versorgung.
Inwieweit ist die Gesundheitsinfrastruktur schuld an der dramatischen Situation?
Fernandes: Wir haben kein öffentliches Gesundheitssystem, das wirklich funktioniert. Über Jahre hinweg haben reiche Leute im Land für ein privates System gekämpft - und das hat für wohlhabende Inder gut funktioniert. Indien entwickelte stark spezialisierte Krankenhäuser, wir wurden ein Ziel für Medizintourismus, für Leute, die es sich leisten konnten. Aber unsere eigene Bevölkerung kann nicht einmal die medizinische Grundversorgung bezahlen. Die aktuelle Situation hat nicht die Risse in unserem System gezeigt - sie zeigt, dass wir kein System haben.
Im Vergleich zur Bevölkerung hat Indien sogar weniger tägliche Neuinfektionen als Deutschland. Indien hat derzeit eine 7-Tage-Inzidenz von 146,4, in Deutschland ist sie schon über 160. Wo liegt der Unterschied?
Fernandes: Hier gibt es sehr konzentrierte Ausbrüche, die nicht gleichmäßig verteilt sind. Allein in Delhi hatten wir mehr als 20.000 Neuinfektionen pro Tag. Das ist für ein Gesundheitssystem schwer zu bewältigen. Ich lebe in Bombay. Hier ist die Situation nicht so schlimm wie in Neu-Delhi.
Gibt es Vermutungen über eine Dunkelziffer?
Saikia: Ich würde mich nicht nach den Zahlen der Regierung richten. Schauen Sie sich nur die Krematorien an, die so voll sind, dass Parks für die Einäscherung von Menschen genutzt werden. Die Eisenplattformen in den Krematorien sind geschmolzen, weil so viele Leichen in so kurzer Zeit verbrannt wurden. Die offiziellen Zahlen geben kein genaues Bild davon, wie verzweifelt die Situation ist.
Fernandes: Ganz oft wird die Vorerkrankung als die Todesursache genannt, anstatt die Corona-Infektion. Wenn jemand eine Herzerkrankung hatte, wird diese anstelle von Covid-19 als offizielle Todesursache aufgeschrieben. Wir wissen nicht, wie stark die Zahlen manipuliert sind, aber es ist definitiv signifikant.
Welche Fehler könnten die zweite Welle mit bedingt haben?
Saikia: Im Januar erklärte die Regierung den Sieg gegen das Virus. Das war eine extrem gefährliche Sache, wenn man bedenkt, dass jedes andere Land mehrere Wellen durchgemacht hat. So war es nur unvermeidlich, dass wir wieder getroffen werden würden.
Fernandes: Unsere Regierung erlaubte riesige religiöse Zeremonien, wie das Kumbh Mela Festival. Hunderttausende von Menschen kamen zu diesem Festival, ohne dass es irgendwelche Gesundheits- und Sicherheitsvorkehrungen gab. Außerdem haben wir Wahlen in vier Bundesstaaten. Erst vor ein paar Tagen hat sich der Premierminister Narendra Modi auf einer Kundgebung bei den Menschen bedankt: Er sei so glücklich, so viele Menschen zu sehen. Am selben Tag hat Indien eine Rekordzahl an Neuinfektionen gemeldet. Man kann es nicht anders ausdrücken: Die Regierung war mitschuldig.
Und welche Rolle spielt die Virus-Mutante B.1.617?
Fernandes: Die neue Mutante scheint sich viel schneller zu verbreiten. Forscher sind sehr besorgt, aber sie haben nicht genügend Informationen und Proben, mit denen sie arbeiten können. Die indische Regierung hat internationale Forscher bisher nur zögerlich unterstützt. Und in Indien ist es schwer, Forschung zu betreiben, weil unsere Kapazitäten begrenzt sind.
Indien ist einer der größten Impfstoffproduzenten der Welt. Wie kommt die Impfkampagne im Land voran?
Fernandes: Wir haben einen großen Mangel an Impfstoffen. Einer der größten Hersteller im Land, das Serum Institute of India, hat sehr viel Impfstoff exportiert. Erst neulich prahlte ein Minister damit, dass Indien mehr Impfstoffe exportiert hat, als es seiner Bevölkerung verabreicht hat. Es war der Regierung offenbar nicht so wichtig - sie dachten, wir hätten das Virus besiegt.
Saikia: Jüngere Menschen dürfen sich ab Mai impfen lassen. Allerdings müssen sie dafür selbst bezahlen. Ich schätze, das kostet etwa 600 Rupien. Das ist eine Menge Geld - für Mindestlohnempfänger sind das etwa vier Tage Arbeit. Wir haben eine große Bevölkerung unter 45 Jahren. Ich glaube nicht, dass die Leute bereit sein werden, dafür zu bezahlen.
Was prognostizieren die Experten für die kommenden Wochen?
Saikia: Wir alle hoffen, dass die Zahlen nach unten gehen. Aber realistisch gesehen werden wir erst Mitte oder Ende Mai einen Höhepunkt sehen. Noch beunruhigender ist, dass das Virus in die kleinen Städte Indiens eingedrungen ist, was bei der ersten Welle nicht der Fall war. Die medizinische Infrastruktur ist dort noch schlechter. Das ist etwas, vor dem wir uns sehr in Acht nehmen müssen. Andernfalls stehen wir vor einer beispiellosen Katastrophe.
Mit Naresh Fernandes und Arunabh Saikia sprach Clara Suchy
Quelle: ntv.de