Im Hauruck-Verfahren ins Amt Pistorius liest "seit gestern nichts anderes mehr"
17.01.2023, 17:27 Uhr
Boris Pistorius - erst am Montag wurde ihm die Lambrecht-Nachfolge angeboten. Er musste "nicht lange überlegen".
(Foto: picture alliance/dpa)
Wie gut, dass Boris Pistorius schon länger Ambitionen auf einen Posten in Berlin hatte - so reagiert er auf das "überraschende" Angebot des Kanzlers im Turbotempo. Gut abgestimmt wirkt das Prozedere nicht, aber der Niedersachse macht klar, dass er weiß, was ihn erwartet.
Einen Sinn für Cliffhanger hat der Kanzler. Am Montagvormittag tritt Christine Lambrecht zurück, schon am Freitag war ihre Entscheidung durchgesickert, aber die Nachfolge scheint auch an Tag 3 nach dieser Eilmeldung noch völlig ungeklärt. "Heute passiert nichts mehr", heißt es schon vor 12 Uhr mittags aus der SPD, das gilt allerdings nur für die offizielle Seite.
Intern müssen zur selben Zeit die Drähte ziemlich heiß laufen, denn Boris Pistorius erklärt am Dienstagnachmittag vor der Presse, er sei erst am Tag zuvor überhaupt gefragt worden, ob er das Amt des Verteidigungsministers übernehmen wolle. Als "sehr überraschend" beschreibt der bisherige Innenminister von Niedersachsen dieses Angebot, aber auch: "Ich musste nicht lange überlegen." Die Bereitschaft und einen gewissen Stolz strahlt der SPD-Politiker auch am Tag danach noch aus.
In Hannover wundert das wohl niemanden. In den vergangenen zehn Jahren als Innenminister konnte man miterleben, wie er sich für ein Bundesamt "warmlief", so nennt es eine Berichterstatterin aus der Landespolitik. Aus seinen Ambitionen in Richtung Berlin machte Pistorius kein Geheimnis, ohne darüber die Aufgaben vor Ort zu vernachlässigen. Bei Christine Lambrecht erreichte er, dass eines von bundesweit fünf Heimatschutzregimentern der Bundeswehr in Niedersachsen stationiert wird.
Einer so ehrenvollen Aufgabe hätte er sich "niemals entziehen wollen", damit ist für Pistorius zu den Ambitionen eigentlich alles gesagt - kann man ein solches Angebot ernsthaft ablehnen? Man kann. Andere müssen sich entzogen haben, denn ohne Not hätte Olaf Scholz kaum das Wochenende verstreichen lassen und die Gelegenheit, einen Nachfolger schon an dem Tag zu präsentieren, an dem Lambrecht ihren Rücktritt offiziell einreichte. Zur Arbeit im Ministerium war die Ministerin da schon nicht mehr erschienen, die Truppe, wenn man so will, also ohne "IBuK", ohne aktiven "Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt".
96 Stunden Rätselraten
Souverän und lagebeherrschend wirkte das nicht - dabei hinterlässt der Kanzler doch häufig den Eindruck, als lege er auf diese Wirkung besonders viel Wert. Stattdessen im politischen Berlin also unterhaltsames Rätselraten bis zum nächsten Tag und Spekulationen darüber, wer in den verstrichenen 96 Stunden wohl schon ein Jobangebot erhalten, aber abgelehnt haben könnte.
Boris Pistorius ficht das nicht an. Er werde seine Dienstgeschäfte unmittelbar nach der Vereidigung aufnehmen, erklärt er gutgelaunt in die Kameras, und vom ersten Tag an "mit 150 Prozent". Er habe "Demut und Respekt vor so einer gewaltigen Aufgabe". Die nötige Energie zeigt Pistorius ebenfalls. Die Fernsehschalte nach Hannover steht schon, und Pistorius startet mit seinen Worten des Dankes, da hat Scholz im Brandenburgischen - wo er einen Termin hat - noch gar nicht offiziell dazu Stellung genommen, dass er den Niedersachsen übrigens gefragt hat.
Die Hierarchie hätte es wohl andersrum verlangt, aber die SPD scheint so froh, dass der Job endlich vergeben ist - da wird man jetzt nicht auf dem Protokollarischen herumhacken. Möglich wäre allerdings, dass der bald Neue im Ampel-Kabinett den Kanzler auch in anderen Fragen überholt. Gewohnt ist Scholz das nicht, Vorgängerin Lambrecht interpretierte ihre Kanzler-Loyalität als Verpflichtung zur reinen Exekutive. Kein Widerspruch, kein Korrektiv.
Pistorius: "Die Ukraine muss den Krieg gewinnen"
Das könnte mit Pistorius anders werden. "Die Ukraine muss den Krieg gewinnen" - dieser Satz, den zu sagen Olaf Scholz seit elf Monaten vermeidet, fiel bei Pistorius bereits im Mai vergangenen Jahres im Gespräch mit Micky Beisenherz auf ntv. Ob er aus diesem klar formulierten Ziel auch die von vielen Sicherheitsexperten erklärte Notwendigkeit für die Lieferung von Kampfpanzern ableitet, dazu wird sich Pistorius schon in den ersten Tagen nach seiner Amtsübernahme positionieren müssen.
Beim Treffen der internationalen Kontaktgruppe der Ukraine-Unterstützerstaaten am Freitag in Ramstein wird der deutsche "Leopard" ein zentrales Thema sein. Hätte Pistorius bis dahin überhaupt eine Chance, eine eigene Linie zu entwickeln, die auch nur eine Handbreit von der abweicht, die der Kanzler vorgibt? Schwer vorstellbar. Gleichzeitig wird es in Ramstein wohl so schwierig wie nie zuvor, die zögernde Haltung in dieser Frage den lieferbereiten Partnern zu verkaufen.
Es wird also an Tag 2 seiner Amtszeit sofort richtig spannend. Und als Pistorius entgegen der Ankündigung nach seinem Statement noch spürbar in Stimmung für Nachfragen ist, antwortet er auf die nach seiner Einarbeitung denn auch lachend: "Ich lese seit gestern nichts anderes mehr." Zweite Wahl im Hauruck-Verfahren - so sportlich, wie Pistorius mit seinem verquasten Einstieg umgeht, könnte es sein, dass es zukünftig eher der Minister ist, der den Chef überrascht, als umgekehrt.
Quelle: ntv.de