Russische Truppen an der Grenze zur Ukraine, der wichtigste Oppositionspolitiker im Hungerstreik - und Putin spricht in seiner jährlichen Rede an die Nation vor allem über Innenpolitik. Nur mit Blick auf Belarus macht der Präsident eine klare Ansage.
Während der russische Präsident spricht, finden in mehr als 100 Städten des Landes nicht genehmigte Demonstrationen für den verurteilten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny statt. Doch in seiner jährlichen Rede an die Nation vor den Mitgliedern des russischen Föderationsrats erwähnt Wladimir Putin Nawalny mit keinem Wort.
Bereits seit drei Wochen befindet Nawalny sich im Hungerstreik. Sein Zustand, so berichten es seine Vertrauten, hat sich zuletzt deutlich verschlechtert. Am "Tag der Solidarität" mit Nawalny fordern die Protestierenden, dass ein ziviler Arzt zu dem Politiker gelassen wird. Der Kreml zeigt sich von den Protesten jedoch unbeeindruckt. Im Stundentakt meldet die Webseite OVD-Info, die sich mit dem Monitoring von politischen Verfolgungen in Russland beschäftigt, neue Festnahmen. Am Nachmittag wurden bereits mehr als 100 Verhaftungen registriert. Doch wer glaubte, Putin würde wenigstens indirekt auf Nawalny eingehen, sieht sich getäuscht.
Auch sonst waren die Erwartungen an Putins Auftritt größer als das, was die Ansprache tatsächlich lieferte. So wurde in den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine das Gerücht verbreitet, der russische Präsident werde die offizielle Anerkennung der beiden von Moskau unterstützten Quasi-Staaten verkünden, also die faktische Annexion eines weiteren Teils des ukrainischen Staatsgebiets. Aus diesem Grund wurde seine Rede auch in Kiew mit Spannung verfolgt.
Tatsächlich war der Auftritt des 68-Jährigen aber zum großen Teil dem Kampf gegen das Coronavirus sowie den inneren sozialen und wirtschaftlichen Problemen des Landes gewidmet. Die Ukraine, in deren Osten die Lage seit einiger Zeit wieder eskaliert, kam nur kurz vor - und zwar, als Putin über den angeblichen Anschlag auf den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko sprach, den der russische Geheimdienst FSB zusammen mit dem belarussischen KGB verhindert haben will. Hinter dem geplanten Umsturz hätten westliche Geheimdienste gestanden, deutete Putin an. "Im Westen denkt niemand an das Schicksal von Belarus, genauso wie man nicht an das Schicksal der Ukraine dachte", sagte er und verglich die Situation mit der Absetzung des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch im Laufe der Maidan-Revolution 2014.
Putin droht mit "asymmetrischer Antwort"
Eine indirekte Botschaft an die Ukraine sowie an den Westen gab es dennoch: "Sollte es Provokationen gegen Interessen Russlands geben, wird es eine asymmetrische und derart starke Antwort geben, dass deren Hintermänner es mehr denn je bedauern werden", sagte Putin über die Lage an der ukrainischen Grenze, wo Russland dem EU-Außenbeauftragten Josep Borell zufolge inzwischen mehr als 150.000 Soldaten zusammengezogen hat.
Die Drohung ist ein weiterer Hinweis, dass Russland die Wahrscheinlichkeit eines ukrainischen Angriffs im Donbass, um Teile des von prorussischen Separatisten besetzten Gebietes zurückzugewinnen, offenbar höher einschätzt als bislang angenommen. Die Moskauer Logik könnte etwa folgendermaßen aussehen: Die Ukraine versucht, unterstützt von den USA, Russland direkt in den Ostukraine-Krieg hineinzuziehen, um so den Stopp der umstrittenen Pipeline Nord Stream 2 zu erreichen. Eine einseitige Militäroperation durch Kiew ist allerdings sehr unwahrscheinlich.
Putin machte weiterhin deutlich, dass für Russland auch der Nachbar Belarus zu den "Kerninteressen unserer Sicherheit" gehört. Am morgigen Donnerstag kommt der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko nach Moskau und will dort "eine der prinzipiellsten Entscheidungen" seiner Amtszeit verkünden, wie es vorab hieß. Deswegen hielt man es für nicht ausgeschlossen, dass Putin etwa die Vertiefung der gegenseitigen Integration mit Minsk verkünden könnte.
"Da sind schon alle Grenzen überschritten"
Auch dazu kam es nicht, doch die Worte Putins zum angeblichen Mordanschlag an Lukaschenko waren deutlich. "Wir sehen die Tatsachen eines Versuchs, einen Staatsstreich in Belarus sowie die Ermordung des Präsidenten dieses Landes zu organisieren", sagte er. "Es ist sehr charakteristisch, dass der sogenannte kollektive Westen solche Aktionen nicht verurteilt. Niemand scheint das zu bemerken. Man kann unterschiedliche Meinungen über die Politik von Lukaschenko haben. Aber die Praxis, Staatstreiche zu organisieren und hochrangige Funktionäre zu töten, geht zu weit. Da sind schon alle Grenzen überschritten." Putin erwähnte die Geständnisse der inhaftierten Verdächtigen, die davon gesprochen haben sollen, wie die belarussische Hauptstadt Minsk durch die vollständige Abschaltung des gesamten Energiesystems lahmgelegt werden sollte.
Laut Putin will Russland die Brücken zum Westen nicht niederbrennen: "Wir wollen gute Beziehungen zu allen behalten, sehen aber leider auch, was im realen Leben passiert." Aus seinen Worten zu Belarus klang deutlich heraus, dass Russland jegliche Bewegungen in Richtung Machtwechsel als einen vom Westen unterstützten Staatsstreich mit allen dazugehörigen Konsequenzen wahrnehmen würde. Das macht die Spannung vor dem morgigen Treffen zwischen Lukaschenko und Putin noch größer, auch wenn sich nicht abzeichnet, worum es dabei gehen könnte. Möglich wären eine Vertiefung der gegenseitigen Integration sowie die lange angekündigte Verfassungsreform in Belarus, die der Kreml deutlich von Minsk einfordert.
Trotz seiner Drohungen gegen den Westen hatte Putins Rede damit weniger Sprengstoff als ursprünglich gedacht. Dennoch unterstrich sie noch einmal das klassische Weltbild des russischen Präsidenten: Egal ob im Donbass-Krieg, bei den Protesten in Belarus oder im Fall Nawalny - Putin sieht all diese Themen als Teil eines großen Kampfes des Westens gegen Russland, und er agiert entsprechend. Dass er an diesem Tag mit Blick auf die Ukraine und Nawalny auf eine rhetorische Eskalation verzichtet hat, bedeutet gar nichts.
Quelle: ntv.de