Politik

Experte zum Umgang mit Selenskyj "Putin hat seine Enttäuschung nicht mehr unter Kontrolle"

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Sieht Wolodymyr Selenskyj als vom Westen an der Spitze der Ukraine eingesetzten Juden: Wladimir Putin

Sieht Wolodymyr Selenskyj als vom Westen an der Spitze der Ukraine eingesetzten Juden: Wladimir Putin

(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)

Putins neueste Theorie zu Selenskyj: Als Jude sei dieser vom Westen installiert, um den Nazi-Charakter des ukrainischen Regimes zu verschleiern. Warum solche Gedanken den russischen Präsidenten so umtreiben, erklärt der promovierte Historiker Alexander Friedman. Er lehrt unter anderem an der Universität des Saarlands.

ntv.de: Herr Friedman, vor Kurzem hat Russlands Präsident Wladimir Putin einmal mehr über Wolodymyr Selenskyj gesagt, der ukrainische Präsident sei kein Jude, sondern eine Schande des jüdischen Volkes. Was für ein Narrativ versucht er damit zu etablieren?

Alexander Friedman: Neuerdings geht er sogar noch weiter. Vergangene Woche gab es eine Sitzung, um den 80. Jahrestag der Befreiung vorzubereiten. Dort sagte er, der Westen, also die Amerikaner, hätten in der Person Selenskyjs extra einen Juden für das Präsidentenamt ausgewählt, um den nationalsozialistischen Charakter des ukrainischen Regimes zu verschleiern. Selenskyj wäre demnach das "Produkt" einer Verschwörung.

Erreichen Putins ohnehin schon abenteuerliche Theorien hier nochmal eine neue Qualität?

Ja, das ist schon ein geschlossenes Weltbild, das Putin hier offenbart. Er verzerrt vollkommen die nationalsozialistischen Verbrechen, die in der Ukraine stattgefunden haben, und versucht quasi zu zeigen, dass der Holocaust in der Ukraine fast ausschließlich von ukrainischen Kollaborateuren durchgeführt worden ist.

Alexander Friedman wurde 1979 in Minsk geboren. Der promovierte Historiker lehrt Zeitgeschichte und Osteuropäische Geschichte an der Universität des Saarlandes und an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Alexander Friedman wurde 1979 in Minsk geboren. Der promovierte Historiker lehrt Zeitgeschichte und Osteuropäische Geschichte an der Universität des Saarlandes und an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Welche Rolle haben die Deutschen nach Putins Dafürhalten gespielt?

Eine ganz marginale Rolle, wenn überhaupt. Und nun sind gemäß Putin die ukrainischen Nazis wieder da, wieder an der Macht. Und besonders perfide: Ein Jude, eine "Person jüdischer Herkunft", wie Putin es ausdrückt, steht an der Spitze dieser Nazis. Das ist sein neues Narrativ, eine Verschwörungserzählung.

Welches Ziel hatte Putin bisher mit seinen Anspielungen verfolgt?

Putin hat immer gern mal einen Judenwitz erzählt. Die waren nicht immer explizit antisemitisch, aber es waren Anspielungen auf traditionelle Klischees - den gierigen Juden zum Beispiel. Das Thema ist also nicht neu bei ihm. Zugleich hat er sich immer bemüht klarzustellen, dass er nicht antisemitisch ist, sich sogar eher philosemitisch präsentiert. Er hat immer betont, dass er jüdische Freunde hat, dass jüdische Menschen ihn seit seiner Kindheit begleiten.

Darum musste er Selenskyj dann als schlechten, quasi "unechten" Juden präsentieren?

Das begann schon vor dem Überfall, und die Kritik an Selenskyj kam sehr häufig von russischen Propagandisten, die selbst Juden sind. Die haben ihn als schlechten Juden bezeichnet oder seine jüdische Herkunft ganz in Frage gestellt. Sie haben darauf abgehoben, dass er mit einer Nichtjüdin verheiratet ist und sein Sohn getauft ist. Und da diese Vorwürfe von Juden kamen, konnte nicht der Vorwurf entstehen, sie seien antisemitisch.

Putin hat sozusagen jüdische "Fachleute" vorgeschickt, um Selenskyj zu diffamieren.

Ganz genau. Es gibt so eine Reihe von Top-Propagandisten. Einer der berühmtesten und schlimmsten ist wohl Wladimir Solowjow. Er und seine Kollegen haben sich tatsächlich als Juden in der Öffentlichkeit profiliert, ihre Herkunft systematisch hervorgehoben und Selenskyj angegriffen. Nach dem Motto: "Wir sind gute Juden und kämpfen gegen die Nazis, genau wie unsere Vorfahren. Aber Selenskyj ist ein schlechter oder womöglich überhaupt kein echter Jude."

Da hat man sich nun aber festgelegt.

Jetzt ist das Narrativ: Selenskyj ist ein ganz schlimmer Jude, weil er an der Spitze von Nazis steht. Das ist Putins Duktus, aber er beruht nicht auf seiner eigenen Einschätzung, wie er immer wieder betont, sondern auf der seiner jüdischen Freunde. Denn Putin möchte auf keinen Fall wie ein plumper Antisemit wirken. Er ist da vorsichtig.

Wenn aber der Kreml schon recht erfolgreich bislang Selenskyjs Herkunft in seine Propaganda einbaut, warum legt Putin mit der Verschwörungserzählung jetzt noch eine Schippe drauf?

Bei Putin muss man folgendes im Kopf haben: Sein Denken ist nicht in die Zukunft gerichtet, sondern in die Vergangenheit. Er ist von der Geschichte besessen - physisch im 21. Jahrhundert, aber mental weitestgehend im 20. Jahrhundert geblieben und blickt sogar noch tiefer. Denn seine Zeit beim KGB hat ihn sehr geprägt.

Und wie hat man im russischen Geheimdienst auf das Judentum geblickt?

Gerade der KGB war eingesetzt, um die Auswanderung von jüdischen Menschen zu bekämpfen und jüdische Aktivisten zu verfolgen. Die Grundstimmung dort war folgende: "Jüdische Menschen sind international vernetzt, potenziell oder tatsächlich schon Feinde der Sowjetunion, insgesamt suspekt und gefährlich." Ich glaube, diese Furcht prägt Putin noch immer. Deshalb will er unbedingt vermeiden, antisemitisch zu erscheinen, die "jüdische Welt" herauszufordern.

Und nun stehen große Teile der "jüdischen Welt" auf der Seite seiner Gegner.

Das ist für Putin eine Enttäuschung, er hat sich so um ein gutes Verhältnis bemüht. Und noch dazu steht ein Jude an der Spitze der Ukraine, der seine Pläne durchkreuzt. Selenskyj ist für Putin ein Jude, der von den Amerikanern installiert wurde, um antirussische Politik zu betreiben. Das äußert Putin jetzt so massiv, dass ich glaube: Er hat seine Emotionen und seine Enttäuschung nicht mehr unter Kontrolle.

Weil ihn das Thema so umtreibt?

Wenn er das einmal geäußert hätte, könnte man noch sagen, okay, er hat einen schlechten Tag erwischt, er hatte das gerade nötig. Aber er macht das systematisch. Gerade letzte Woche hat man es im Fernsehen gesehen, bei der Sitzung, die ich schon erwähnte: Putin hatte ein unglaublich starkes Bedürfnis, seine Verschwörungserzählung loszuwerden. Und das ganze Drumherum wurde penibel inszeniert.

In welcher Form?

Nach der Sitzung kam extra ein "Journalist" auf ihn zu, der für das russische Staatsfernsehen arbeitet. Der hat ihm nochmal die Frage über die Juden gestellt. Und dann hat er seine Legende über Selenskyj nochmal für das breite Publikum ausgebreitet. Putin hat ganz ausgeprägt etwas gegen den ukrainischen Präsidenten. Und er meint wohl, wenn er ihn antisemitisch angeht, kann er ihn damit treffen. Ich halte das für eine totale Fehleinschätzung, weil Selenskyj tatsächlich keine jüdische Identität zu haben scheint. Er denkt nicht in den Kategorien "jüdisch" oder "nicht jüdisch". Selenskyjs Identität ist ukrainisch.

Mit Alexander Friedman sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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