Interview mit Ex-General Vad Putin will Kiew "austrocknen"
14.03.2022, 16:50 UhrNach dem russischen Angriff auf einen ukrainischen Militärstützpunkt nahe der Grenze zu Polen wächst die Sorge vor einer Eskalation. Erich Vad, Ex-General und ehemaliger Sicherheitsberater von Angela Merkel, schätzt im Gespräch mit ntv die aktuelle Situation in der Ukraine ein und erklärt, warum er Russlands Drohungen mit Nuklearwaffen gerade eher für eine Stufe der Eskalation, aber nicht für eine reale Bedrohung für Kiew und die NATO-Staaten hält. Putin verfolge eine andere Strategie, um die Regierung zu stürzen.
ntv: Herr Dr. Vad, der Krieg tobt in der dritten Woche. Die Lage in Kiew wird immer dramatischer, die Russen wollten ja die Stadt einkesseln, um dann quasi ein Aufgeben der Führung zu erzwingen. Wie stellt sich Ihnen die militärische Lage, gerade was Kiew angeht, momentan dar?
Erich Vad: Die Russen marschieren jetzt aus mehreren Richtungen auf Kiew zu, vor allen Dingen aus Nordwesten und Osten, um diesen Ring um die Stadt zu schließen. Und es ist auch so, dass sie von Süden wahrscheinlich Richtung Kiew marschieren werden. Das Ziel ist tatsächlich, die Stadt einzuschließen und dann sozusagen austrocknen zu lassen. Das heißt, möglichst zu warten, bis der Widerstandswille weg ist, aber das ist ja nicht zu sehen. Die Ukrainer verteidigen sich, wollen sich verteidigen, haben sich da in der Stadt auch verschanzt und werden sicherlich ein sehr harter Gegner für die Russen sein.
Gleichzeitig gibt es weitere Angriffe auf viele weitere Städte. Auch im Westen des Landes ist ein Militärstützpunkt getroffen worden, der nahe der Grenze zu Polen liegt. Das birgt ein bisschen die Gefahr, dass auch NATO-Territorium - vielleicht durch Zufall - am Ende betroffen sein könnte und eine Eskalation droht. Wie sehen Sie das?
Den Westen haben die Russen weitgehend ausgespart. Man muss davon ausgehen, dass Spezialkräfte im Raum sind. Hier laufen ja die westlichen Hilfsleistungen, die Waffen transportieren. Das geht alles über den Westen der Ukraine, also die Seewege, zu. Über Luft läuft auch sehr wenig, sodass dieses Gebiet natürlich für die Russen deswegen wichtig ist, um die westlichen Hilfslieferungen zu unterbinden oder zumindest zu verlangsamen. Und vor dem Hintergrund sehe ich auch die jetzigen Raketenangriffe.
Aber wenn eine Rakete auf polnischem Territorium einschlüge - das ist ja nicht völlig auszuschließen -dann würde auch der Bündnisfall eintreten, oder?
Der Bündnisfall setzt nicht sofort oder automatisch ein, sondern ist Ergebnis einer politischen Entscheidung oder eines Entscheidungsprozesses, in dem alle 30 Mitgliedsstaaten zustimmen müssen. Das sehe ich hier nicht. Also, selbst wenn es einen Irrläufer gäbe, würde man in der militärischen Kommunikation, die man mit den Russen noch hat, das von der NATO abklären: Ist das zielgerichtet? Ist das der Beginn eines Angriffs? Und das müsste man erst im Bündnis diskutieren. Es gibt nicht den Automatismus "Da schlägt etwas ein und wir sind im Dritten Weltkrieg".
Das ist etwas beruhigend. Und gleichzeitig gibt es diplomatische Bemühungen. Nach wie vor laufen ja Gespräche zwischen der ukrainischen und der russischen Seite. Da gibt es auch durchaus positive Tendenzen, von denen man so hört. Wie ist da Ihre Beurteilung? Wo könnte da eine Lösung sein? Und wie schnell könnte so etwas vielleicht kommen?
Dass die Gespräche laufen, ist in der Tat positiv. Wir haben noch keine konkreten Ergebnisse, aber die Tatsache, dass man sie fortsetzt und dass man jetzt schon drüber redet, auch ein großes Treffen zwischen Selenskyj und Putin vorzubereiten - das Russland auch signalisiert hat -, das ist alles sehr positiv. Man muss jetzt sehen, wie das weitergeht. Militärisch versucht jetzt jede Seite, den Preis so hoch wie möglich zu treiben. Und vor dem Hintergrund muss man ja jetzt auch die Militäraktivitäten der Russen wie die der Ukrainer sehen.
Die Lage in Kiew wird immer bedrohlicher. Die Russen versuchen, die Stadt zu umzingeln. Es ist noch nicht ganz gelungen, aber es ist wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit. Wie beurteilen Sie die Lage gerade jetzt, was Kiew angeht, wo auch die Regierung und der Generalstab sitzen?
Die Ukrainer richten sich in Kiew zur Verteidigung ein. Sie haben den Generalstab dort, das Kommunikationszentrum des Landes, die politische Leitung ist in Kiew. Die ukrainische Hauptstadt hat eine hohe symbolische Bedeutung. Es ist das religiöse Zentrum der Orthodoxie. Das muss man hier auch sehen. Und die Russen nähern sich der Stadt in mehreren Marschkolonnen, aus Nordosten und Nordwesten. Ich denke, dass sie auch von Süden in Richtung Kiew marschieren werden, um die Stadt einzukesseln und austrocknen zu lassen, von den Kommunikationsverbindungen abzuschneiden, auch von den Waffenlieferungen aus dem Westen. Das ist so das Ziel der Russen.
Sie haben das religiöse Zentrum erwähnt für die orthodoxe Kirche. Das ist auch für Russland nicht ganz unwichtig. Erklärt das vielleicht auch, warum es noch keinen massiven Luftangriff gegeben hat auf das Zentrum von Kiew, weil dann diese kirchlichen Güter beschädigt werden würden, und das kann oder will Putin anscheinend nicht. Wie sehen Sie das?
Ja, das ist sicherlich ein Dilemma für Putin. Der Verteidiger hat sich eingerichtet. Er ist willens und fähig, auch einen lang andauernden Krieg im urbanen Umfeld zu führen. Das transportieren die Ukrainer auch nach außen. Auf der anderen Seite muss Putin Rücksicht nehmen auf dieses religiöse Zentrum Kiew. Er kann eigentlich nicht so verfahren wie in Grosny und die Stadt dem Erdboden gleichmachen. Aber gleichsam muss er auch diese Verteidiger überwinden. Dazu braucht er eine mehrfache Überlegenheit, und Orts- und Häuserkampf ist sehr blut- und opferintensiv. Und das alles beschäftigt natürlich die Russen und da muss man sehen, wie das dann vonstatten geht.
Das heißt für mich, es kann sich noch ziemlich lange hinziehen, bis eine Entscheidung in Kiew fallen wird, bei der entweder die Russen sagen: Wir haben die Stadt jetzt unter unserer Kontrolle. Oder die Ukrainer sagen: Wir haben die Russen zurückgedrängt. Das wird keine Sache von Tagen sein, oder?
Nein, ich denke auch, dass es dauern wird. Und jede Seite versucht jetzt, auch mit Blick auf die laufenden Verhandlungen, den Preis möglichst hoch zu treiben. Die Russen mit ihrer militärischen Überlegenheit und die Ukrainer mit ihrer hohen Kampfmoral und dem Willen, jeden Zentimeter von Kiew zu verteidigen. Das wird man einfach sehen. Man kann nur hoffen, dass es nicht zu diesem Orts- und Häuserkampf kommen wird, und dass die Verhandlungen, die jetzt angelaufen sind, auch zielführender werden.
Es hat einen Angriff auf einen Militärstützpunkt nahe der polnischen Grenze gegeben. War das ein gezielter Nadelstich der Russen, die so zeigen: Wir greifen auch ganz im Westen an und im Notfall ist es uns egal, ob da die polnische Grenze ist. Oder wie bewerten Sie diesen Angriff so weit im Westen, wo bislang eigentlich Ruhe herrschte?
Es gab heute mehrere Raketenangriffe in die Westukraine, aber ich denke mal, die Russen wollen da die Versorgungswege der Ukrainer kappen. Die ganzen Hilfslieferungen, auch die Waffenlieferungen, laufen ja über die Westukraine auf dem Landweg. Die Russen haben schon Spezialkräfte in der Westukraine im Einsatz. Und ich denke, sie wollen mit diesen punktuellen Schlägen vor allen Dingen die Wege der Ukrainer für Nachschub unterbrechen. Deshalb passiert das in der Nähe des NATO-Territoriums. Da muss man schauen, aber ich denke, dass das jetzt kein zielgerichtetes Signal ist wie "Achtung, wir nehmen jetzt die NATO unter Feuer".
Also die nukleare Eskalation, die Gefahr, die seit einigen Tagen immer irgendwo im Raum steht, die sehen Sie momentan eher nicht?
Nein, das sehe ich nicht. Putin hat zwar Nuklearwaffen, aber damit kommt er auch in der Ukraine nicht weiter. Die helfen ihm nicht bei diesem Kampf im urbanen Umfeld. Die Waffen haben für ihn eine hohe symbolische Bedeutung, er droht damit auch auf der Eskalationsleiter. Aber ich denke, mehr als eine Drohung und ein politisches Instrument, um zu sagen, "Achtung, ich habe noch mehr im Köcher", ist das nicht.
Schauen wir mal ganz kurz nach Deutschland: Die Bewaffnung der Bundeswehr. 100 Milliarden sind ja in den Raum gestellt worden vom Kanzler. Jetzt wird wohl klar, dass wir 35 Kampfflugzeuge der Amerikaner kaufen werden, um die veralteten Tornados abzulösen. Ist das ein gutes Flugzeug?
Ja, der F-35 ist sicherlich das beste Kampfflugzeug, was wir haben. Der Tornado ist in die Jahre gekommen. Die nukleare Teilhabe ist für Deutschland auch wichtig. Dafür braucht man das richtige Flugzeug. Und ich denke, das ist auch die richtige Entscheidung der Bundesregierung.
Das heißt, diese Flugzeuge wären geeignet, Stichwort nukleare Teilhabe, mit Atomwaffen bestückt in den Osten zu fliegen, um einen Gegner taktisch zu bekämpfen?
Ja, das ist richtig. Ich meine, im Lichte der Entwicklungen in Osteuropa ist das eine Option, über die man einfach verfügen muss. Es geht ja nicht darum, dass es zum Einsatz kommt, sondern mit der Fähigkeit, die man hat, vor einem Krieg abzuschrecken. Wir sind wieder da, wo wir letztlich vor Jahren auch waren. Wir sind noch nicht im Kalten Krieg, aber letztlich kommt es darauf an, auf Seiten der NATO zu zeigen: "Hier sind die Grenzen, keinen Schritt weiter und ein Zugriff auf NATO-Territorium würde Krieg bedeuten."
Wobei das alles, was wir jetzt versuchen anzuschaffen oder anschaffen werden in den kommenden Wochen, Monaten und Jahren, eben im aktuellen Konflikt nicht helfen wird. Das heißt, es wird ein langwieriger Prozess, bis die Bundeswehr dann mal in der Lage ist zu sagen: "Wir haben jetzt ein höheres Abschreckungspotenzial als zu diesem Zeitpunkt." Wie lange kann das dauern, bis die Bundeswehr auf dem Stand ist, wo sie sein müsste?
Die Bundeswehr ist in den vergangenen Jahren massiv finanziell unterausgestattet worden. Erst seit der Krim-Annexion hat sich das geändert. Aber wir haben den Schalter noch nicht richtig umgelegt, und das machen wir jetzt. Wir gehen jetzt Richtung Einsatzbereitschaft der Bundeswehr, und zwar für die Landes- und Bündnisverteidigung. Das war vor kurzem gar nicht der Fall. Wir waren fokussiert auf Afghanistan und haben jetzt nach dem russischen Überfall auf die Ukraine eine ganz andere Situation. Aber Sie haben recht: Es wird Jahre dauern. Das geht nicht von heute auf morgen.
Mit Erich Vad sprach Holger Schmidt-Denker
Quelle: ntv.de