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Reisners Blick auf die Front "Putin will die ukrainische Offensive vor dem Winter stoppen"

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Die von den USA versprochenen ATACMS-Raketen bieten den entscheidenden Vorteil, dass sie von HIMARS-Raketenwerfer abgeschossen werden können.

Die von den USA versprochenen ATACMS-Raketen bieten den entscheidenden Vorteil, dass sie von HIMARS-Raketenwerfer abgeschossen werden können.

(Foto: picture alliance / Photoshot)

Die Ukrainer versuchen bis zum Einsetzen der Regenzeit, ihre Offensive so weit voranzutreiben wie möglich. Um sie auch noch im Winter am Laufen zu halten, braucht die Ukraine die versprochenen ATACMS-Raketen, sagt Oberst Markus Reisner. Die können die derzeitige Offensive zwar nicht retten, aber die Vorbereitung auf die kommende Frühjahrsoffensive sein: "Die Reichweite der Boden-Boden-Rakten zwingt die Russen dazu, ihre Stellungen neu zu organisieren", sagt Reisner im wöchentlichen Interview. Doch genau das versuche Präsident Putin zu unterbinden, um Pläne für eine russische Winter-Offensive voranzutreiben.

ntv.de: An der Front gibt es derzeit viel Bewegung. Das Institute for the Study of War (ISW) nennt vor allem die Situation um Orichiw in Saporischschja "extrem dynamisch". Konnten die ukrainischen Streitkräfte dort in der letzten Woche eine weitere Verteidigungslinie durchbrechen?

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und anaylsiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und anaylsiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

(Foto: privat)

Markus Reisner: In den letzten 48 Stunden hat sich tatsächlich eine gewisse Dynamik entwickelt. Es gibt nach wie vor drei Hauptstoßrichtungen: eine südlich von Bachmut, die vor allem dazu dient, signifikante russische Kräfte zu binden, und die beiden Stoßrichtungen einmal nördlich von Melitopol und nördlich von Mariupol. Südlich von Bachmut ist es den Ukraine gelungen, die Russen bis auf die Eisenbahnlinie zurückzudrängen. In Saporischschja, nördlich von Melitopol und südlich von Orichiw, ist es den Ukrainern gelungen, einen zweiten Fuß in die Tür zu bekommen. Das heißt, dass ihnen eine zweite Einbruchstelle der russischen Verteidigungslinien bei Werbowe gelungen ist. Das ist ein weiterer Erfolg bei dem Versuch der Ukrainer, diese erste Verteidigungslinie langsam zu durchbrechen.

Das ISW betont selbst, dass der Einbruch der Verteidigungslinie selbst noch kein operativer Durchbruch ist und man vor dem Winter auch kein schnelles Vorstoßen der Ukraine mehr erwarten sollte. Heißt das, dass wir uns auf eine lange Offensive einstellen müssen, die mit kleinen Erfolgen bis Ende des Jahres oder Anfang Frühjahr 2024 weitergehen wird?

Es ist das erste Mal, dass das ISW das in dieser Art und Weise darstellt. Sie sprechen zum ersten Mal davon, dass der Durchbruch nicht erreicht worden ist. Die Offensive, die seit dem 4. Juni läuft, hat bis jetzt nicht den gewünschten Erfolg gebracht, nämlich genau diesen Durchbruch, der wie ein Dammbruch funktionieren sollte. In Anbetracht des bald eintretenden Regens ist die ukrainische Offensive praktisch vom Scheitern bedroht.

Kiew betont immer wieder, dass die Offensive nicht stoppen wird, auch wenn die Regenfälle und Schlammzeit einsetzen. Wie wollen sie trotz schlechter Wetterbedingungen die Offensive am Laufen halten?

Dafür ist ganz entscheidend, dass die USA jetzt ATACMS an Kiew liefern. Die Boden-Boden-Raketen haben eine Reichweite von bis zu 300 Kilometern. Das würde der Ukraine genug Luft geben, um sich im beginnenden Winter für die nächste Offensive im Frühjahr vorzubereiten. Daran kann man aber auch erkennen, dass die Offensive bis jetzt ihre operativen Ziele nicht erreichte, sodass offensichtlich eine Unterstützung der USA notwendig ist.

Wie genau können ATACMS den ukrainischen Streitkräften bei der Offensive helfen?

Sie haben mehrere Vorteile. Zum einen eine große Reichweite, wobei noch ist nicht klar, welcher Typ genau geliefert wird, diese kann also variieren. Auch stellt sich die Frage nach dem entsprechenden Gefechtskopf und, ob Clustermunition zum Einsatz kommt. Ähnliche Fähigkeiten wie die der ATACMS sind zwar schon bei den Marschflugkörpern Storm Shadow und SCALP vorhanden, der große Vorteil ist jedoch, dass ATACMS von HIMARS-Systemen abgeschossen werden können, während Storm Shadow und SCALP von Kampfjets wie SU-24-M abgefeuert werden müssen. Der Leiter des ukrainischen Militärnachrichtendienstes, Kyrylo Budanow, weist aber darauf hin, dass die Ukraine mehrere 100 von diesen Systemen braucht, um tatsächlich einen Effekt zu erzielen, während die USA im Moment nur eine begrenzte Zahl von 60 bis 100 liefern wollen. Dadurch kommt es zwar wieder zu einer symmetrischen Situation auf dem Schlachtfeld, aber die Ukraine kann die Russen damit nicht massiv in die Enge treiben.

Storm Shadow und SCALP sind bunkerbrechende Waffen, das heißt, ihr Sprengkopf ist dafür ausgerichtet, in die Erde einzudringen und Betonwände zu durchbrechen. Welche Funktion haben die ATACMS?

Das hängt vom Sprengkopf ab, den sie tragen. Bisher ist angedacht, eine Version zu liefern, die als Gefechtskopf eine Clustermunition trägt. Der Gefechtskopf eignet sich vor allem dazu, flächendeckend Erfolge zu erzielen, zum Beispiel gegen Truppenansammlungen, herankommende Reserven der Russen oder auch gegen die Soldaten in den Schützengräben. Gegen letztere setzt die Ukraine bereits Clustermunition ein, die vor kurzem geliefert worden ist.

Wie können die Ukrainer die ATACMS sinnvoll nutzen, damit sie auch noch im Winter mit ihrer Offensive weiter vorankommen?

Da kommt die Reichweite ins Spiel. Die russische Seite versucht, ihre Gefechtsstände und Logistik-Knotenpunkte so anzulegen, dass sie außerhalb der Reichweite der ukrainischen Artillerie oder Raketenwerfer-Systeme liegen. Letztes Jahr im Sommer haben die Russen einen Schock erlitten, als die Ukraine das HIMARS-System verwendet hat. Plötzlich konnte die Ukraine bis zu 85 Kilometer weit wirken, was dazu führte, dass die russische Seite sich neu aufstellen musste, weil sie ihre Gefechtsstände und Knotenpunkte aus dieser Distanz verlegen musste. Das hat den Ukrainern Zeit verschafft, um dann weiter bei Charkiw und Cherson in die Offensive zu gehen. Die ATACMS, die jetzt geliefert werden, können genau denselben Effekt erzielen. Sie wirken über die 85 Kilometer der HIMARS-Systeme hinaus, und können Druck auf die russische Seite erzeugen, die die Russen zwingt, sich wieder neu zu organisieren.

Hätten die ATACMS größere Erfolge bei den Angriffen auf die Krim-Brücken als Storm Shadow oder SCALP bisher? Die zerstören zwar die Brückendecke, können die Brücken aber nicht untauglich machen.

Das hängt von dem gelieferten System ab. Die Rakete ist grundsätzlich so gebaut, dass sie unterschiedliche Gefechtsköpfe tragen kann. Im Moment gibt es nur Gerüchte, dass die Clusterversion geliefert werden soll. Es kann aber sein, dass man Gefechtsköpfe liefert, die sich besser für den Angriff auf Brücken eignen. Durch die Lieferung der ATACMS entsteht nun ein Druck auf Deutschland, mit der Lieferung von Taurus nachzuziehen. Das erinnert sehr an die Situation, wo Deutschland nach der Zusage der Lieferung von Abrams-Panzern dann auch eine Lieferung von Leopard-Panzern zugesagt hat. Die Leopard-Panzer sind bereits seit Monaten im Einsatz, die ersten Abrams wurden erst jetzt geliefert.

Laut den Informationen eines Insiders auf dem Telegram-Kanal "Kreml Secrets", soll Präsident Putin seinem Verteidigungsminister Sergej Schoigu befohlen haben, die ukrainische Offensive bis Anfang Oktober zu stoppen. Ist das glaubwürdig?

Durchaus. Russland möchte auf jeden Fall noch vor dem Eintreten des Winters einen Erfolg vorzeigen können. Da wäre es optimal, wenn die ukrainische Offensive zum Versiegen kommt. Die Offensive wird aufgrund der eintretenden Rasputiza, der Regenzeit, automatisch in ihrer Intensität nachlassen, weshalb die Ukraine versucht, auf anderer Ebene Erfolge zu erzielen. Zum Beispiel mit massiven Angriffen auf die Krim. Dazu passt auch die Ankündigung von Budanow, dass man mit ATACMS vor allem versuchen wird, die Eisenbahn- und die Straßenbrücke über die Straße von Kertsch auf der Krim anzugreifen. Diese spektakulären Erfolge werden der Ukraine helfen, im Informationsraum weiter das Momentum zu halten, auch wenn sie sich schwertut, mit den Truppen am Boden vorzumarschieren.

Wie genau will Russland die Offensive stoppen? Welche militärischen Veränderungen werden wir sehen?

Im Prinzip keine. Das, was Russland bereits jetzt macht, ist genau darauf ausgelegt, dass es zu einem Stopp kommt. Das tiefgestaffelte russische Verteidigungssystem ist so angelegt, dass sich die ukrainischen Angreifer von Linie zu Linie abnutzen. Es kann also sein, dass die Ukraine jetzt die erste Linie durchbricht, aber dann in der zweiten und dritten Linie hängen bleibt. Dann hat diese russische Verteidigungssystematik genau ihren Zweck erfüllt. Hier gibt es genug Beispiele aus der Vergangenheit, zum Beispiel aus dem Zweiten Weltkrieg. Bei der "Wiener Operation", als die Rote Armee ihren sowjetischen Vorstoß auf Wien startete, ist die deutsche Wehrmacht zuvor bei der Plattenseeoffensive auch in tief gestaffelten Verteidigungslinien abgefangen worden. Was die Russen heute bei den Ukrainern tun, ist das gleiche, nur setzen sie zusätzliche Kräfte ein, um in der Tiefe bereits neue Minenfelder zu legen.

Die ukrainischen Kräfte stehen zudem unter ständigem Artilleriebeschuss der Russen. Wird das künftig noch mehr?

Dutzende Videos zeigen jeden Tag ukrainische Soldaten, die in den eroberten Schützengräben versuchen, langsam vorzugehen und dabei im Dauerfeuer stehen. Einerseits durch die russische Artillerie und russische Raketenwerfer, aber auch durch den Einsatz von Hunderten dieser First-Person-View -Drohnen, die auf die ukrainischen Soldaten herunterstürzen. Das Ganze wird dann noch ergänzt durch russische Gegenangriffe. Das erinnert an die Gefechte des Ersten Weltkrieges, wo man im Kampf um wenige hundert Meter hunderte, wenn nicht tausende Leute verloren hat. Die Frage ist nur, wer wird in diesem Kampf den stärkeren Willen aufbringen?

Gibt es noch einen anderen Grund, warum Putin jetzt will, dass die Gegenoffensive vor dem Winter gestoppt wird?

Es gibt dazu mehrere Spekulationen. Zum einen haben wir vergangene Woche gesehen, dass die Russen mit einer massiven Welle von Marschflugkörpern begonnen haben, eine zweite strategische Luftkampagne gegen die kritische Infrastruktur der Ukraine zu führen. Das haben sie auch im letzten Jahr beginnend am 10. Oktober gemacht. Das heißt, man wird hier vermehrt Ressourcen brauchen, um diese strategische Luftkampagne zu führen. Zum zweiten scheint es, dass die Russen wieder versuchen, selbst in die Winter-Offensive zu gehen, möglicherweise im Raum zwischen Kupjansk und Swatowe in Richtung Oskil-Fluss. Dazu braucht man ebenfalls Ressourcen, um diese Offensive nähren zu können. Diese Ressourcen sind zurzeit aber noch eingebunden, um die ukrainische Offensive abzuwehren. Deshalb drängt Putin darauf, sie zu stoppen, um selbst in die Initiative gehen zu können. Die Ukraine muss hingegen auf alle Eventualitäten vorbereitet sein.

Mit Markus Reisner sprach Vivian Micks

Quelle: ntv.de

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