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Rasputiza hemmt Offensive Ukraine stehen extrem schwere Monate bevor

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Schon im vergangenen Jahr mussten sich die Ukrainer durch die vom Regen aufgeweichten Böden kämpfen.

Schon im vergangenen Jahr mussten sich die Ukrainer durch die vom Regen aufgeweichten Böden kämpfen.

(Foto: picture alliance/dpa/AP)

Die Uhr für die ukrainischen Streitkräfte tickt. Die bevorstehende Schlammperiode stellt die Truppen vor große Herausforderungen, die schon Napoleon seinerzeit in Schwierigkeiten brachte. Für ein Einfrieren der Offensive gibt es laut Experten gleich mehrere Gründe.

Glaubt man den Berechnungen von US-Generalstabschef Mark Milley bleiben der Ukraine weniger als 35 Tage Zeit, um Fortschritte bei der Offensive zu machen. Dann komme die Kälte, es fange an zu regnen und werde sehr schlammig - ein Alptraum für schwere Geräte wie gepanzerte Fahrzeuge, die in dem Matsch nur schwer vorankommen. Die letzten Wochen vor Herbstbeginn werden für die Ukrainer deshalb ein Kampf gegen die Zeit, auch wenn sie selbst sagen, die Schlammperiode werde die Offensive nicht stoppen.

Die sogenannte Rasputiza beschreibt ein Phänomen, bei dem im Herbst die Böden durch die einsetzende Regenzeit so aufgeweicht werden, dass sich weite Landschaften und unbefestigte Straßen wochenlang in braune Schlammmassen verwandeln. Etwa sechs bis acht Wochen dauert die Phase, die insbesondere in der Ukraine, Belarus und Russland zweimal im Jahr jeweils während der Herbstregenfälle und infolge der Schneeschmelze im Frühjahr auftritt. Sie ist deshalb in Russland auch als fünfte Jahreszeit bekannt.

Grund für die Schlammperioden sind die geografischen Gegebenheiten: Zwischen den drei Städten St. Petersburg, Moskau und Kiew, die je etwa 1000 Kilometer voneinander entfernt liegen, gibt es keine Berge oder Hügel, die höher als 150 Meter sind. Die Regenfälle im Herbst und Wassermassen der Schneeschmelze im Frühjahr können deshalb nicht schnell genug abfließen. Aufgrund der Gesteinart der kleineren Berge kann das Wasser auch nicht in großen Mengen versickern, um nach Zwischenspeicherung später aus Quellen wieder an Bäche abgegeben zu werden. Folglich weicht der Boden auf und wird zu Schlamm.

Schlamm verlangsamt jede Bewegung

Die Ukraine jedoch relativiert die militärischen Herausforderungen: "Die Kämpfe werden weitergehen", sagte Kiews Geheimdienstchef Kyrylo Budanow. Er räumt zwar ein, dass es bei Kälte, Nässe und Schlamm "schwieriger zu kämpfen" sei. Aber von einem Ende der Gegenoffensive will Kiew nichts wissen. Westliche Militärexperten äußern Zweifel an den Aussagen. "Die kommenden Monate in der Ukraine werden sehr hart", fasst die Staatssekretärin im Verteidigungsministerium, Siemtje Möller, die Situation auf der amerikanischen Luftwaffenbasis Ramstein zusammen.

Für die Offensive bedeuten die schlammigen Böden in erster Linie, dass Kettenfahrzeuge abseits gut ausgebauter Straßen nur schwer vorankommen. Die Ukraine muss ihre Militärtaktik deswegen aber nicht groß ändern. Aufgrund der dicht gelegten Minenfelder sind die Streitkräfte bereits in den vergangenen Wochen dazu übergegangen, in kleinen Stoßtrupps zu Fuß vorzugehen, statt mit schwerem Gerät vorzupreschen.

Trotzdem ergeben sich daraus zwei Probleme: Zum einen können Infanterie-Kräfte nicht mehr so leicht durch Kampf- oder Schützenpanzer begleitet werden. Das sei zwar möglich, verlangsame den Vorstoß aber stark, sagt Russlandexperte Gerhard Mangott ntv.de. Nicht nur für die Fahrzeuge, auch für die Soldaten werde es durch den Schlamm beschwerlicher, was sie an einem schnellen Vorankommen hindert. "Zum anderen ist die Durchschlagskraft solcher Offensivoperationen ohne schweres Gerät deutlich geringer", so Mangott.

Eine andere Herausforderung dürfte auch das Rotieren von Streitkräften sowie der Nachschub von Reserven werden. Schon jetzt hat die Ukraine Probleme, verwundete Soldaten aus den schwer umkämpften Gebieten rauszuholen und neue Kräfte nachzuschieben, weil sie unter Dauerbeschuss russischer Artillerie stehen. Kommen die gepanzerten Fahrzeuge im Schlamm nur schwer voran, oder stecken teilweise sogar fest, könnte sich das zu einem ernsthaften Problem für die Truppen an der Front entwickeln.

Schon Napoleon blieb im Matsch stecken

Auch sind die Begebenheiten nicht an allen Frontabschnitten gleich. "Um die Stadt Bachmut und an den nördlichen und südlichen Flanken davon werden wir stärkere Schlammzeiten erleben", sagt Mangott. An der südlichen Front bei Saporischschja, wo die Ukrainer versuchen, die Verteidigungslinien der Russen bei Robotyne zu durchbrechen, werde es dagegen nicht ganz so schlimm werden, weil die Bodenbeschaffenheit eine andere sei. Das wiederum führe zu einer besseren Versickerung des Regenwassers. "Aber auch dort wird es nicht einfach werden", so der Experte.

Ein deutscher Soldat an der Ostfront nach Einsetzen der Schlammperiode, im März 1944.

Ein deutscher Soldat an der Ostfront nach Einsetzen der Schlammperiode, im März 1944.

(Foto: picture-alliance / akg-images)

Die militärischen Probleme sind keineswegs erst seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine bekannt. In der russischen Kriegsgeschichte gibt es etliche Beispiele, wie Truppen in der Vergangenheit mit dem Schlamm zu kämpfen zu hatten. Schon Napoleon ist im Jahr 1812 in die mörderische Falle getappt, das Wetter und dessen Folgen in der Region zu unterschätzen. Als er mit seinen Soldaten über Moskau herfiel und sich der russische Zar trotzdem nicht ergab, schaffte er es nicht mehr rechtzeitig vor Wintereinbruch zurückzukehren und seine Truppen in Sicherheit zu bringen. Das Wetter hatte die Gegend um den Dnipro bereits fest im Griff: von einer halben Million Soldaten waren am Ende nur noch 50.000 am Leben.

Im Zweiten Weltkrieg zwangen die großflächigen Sumpfbildungen die Nazis in die Knie. Bei ihrem Überfall auf die Sowjetunion dauert die Schlammperiode im Frühjahr 1941 ungewöhnlich lange und machte ein Vorrücken der deutschen Wehrmacht unmöglich.

Russen bereitet Regenzeit weniger Probleme

Auch ukrainische Soldaten mussten im vergangenen Jahr ihre Schützengräben vom Schlamm befreien.

Auch ukrainische Soldaten mussten im vergangenen Jahr ihre Schützengräben vom Schlamm befreien.

(Foto: REUTERS)

Für die ukrainischen Streitkräfte ist es bereits die zweite Rasputiza, auf die sie sich vorbereiten müssen. Im vergangenen Jahr konnten sie trotz Wintereinbruch Anfang November noch Fortschritte erzielen, als die Russen seine Truppen vom rechten Ufer des Dnipro bei Cherson abziehen mussten. "Damals war es in dieser Region aufgrund der nicht so dramatischen Witterungsverhältnisse möglich, dass die Ukrainer noch erfolgreich vorwärts stoßen konnten", sagt Mangott. Es hänge deswegen immer stark davon ab, ob die Regenzeit "pünktlich" anfange, oder erst zwei bis drei Wochen später einsetze. Wenn anschließend der Winter mit eisigen Temperaturen einbricht und den Boden einfriert, kommen auch die Panzer wieder besser voran.

Für die Russen hat die Schlammperiode weniger Nachteile als für die Ukrainer. Dadurch, dass sie sich in der Defensive befinden und sich nicht vorwärts bewegen müssen, bleiben sie größtenteils in ihren Schützengräben und versuchen die Angriffe der Ukrainer abzuwehren. Durch die Regenfälle bildet sich laut Mangott in den Schützengräben zwar Wasser, aber nicht so, dass sie volllaufen könnten.

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Die unterschiedlichen Einschätzungen der militärischen Führung in Kiew und die der NATO- und US-Experten, was die Offensive in den kommenden Monaten betrifft, habe politische Gründe, glaubt Mangott. Würde die Ukraine eingestehen, dass sie aufgrund der Witterungsverhältnisse keine nennenswerten Fortschritte machen werde, wäre das ein negatives politisches Signal. "Man müsste eingestehen, dass bisher nur sehr begrenzte Ziele erreicht wurden und man im Frühjahr des nächsten Jahres mit einer weiteren Offensive beginnen muss, wofür man weitere westliche Waffen und Geld braucht."

Auf der Ukraine lastet deshalb großer Druck. "Es besteht die Gefahr, dass manche westliche Staaten die Frage in den Raum werfen, ob es wirklich möglich ist, nennenswerte Gebiete von den Russen zurückzuerobern, oder ob es nicht doch Zeit wäre, Verhandlungen zu führen", so Mangott. Das wäre für Kiew ein großer Nachteil.

Quelle: ntv.de

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