"Mittel aus dem 17. Jahrhundert" Müssen Ukrainer jetzt gegen Ukrainer kämpfen?
21.10.2022, 11:29 Uhr
Die ukrainische Armee hofft auf zahlreiche Deserteure, sollte es in den besetzten Gebieten zu Zwangsrekrutierungen kommen.
(Foto: IMAGO/VXimages.com)
Nachdem Russlands Präsident Putin in den annektierten Gebieten das Kriegsrecht verhängt hat, wächst unter dort lebenden Ukrainern die Sorge vor Zwangseinberufungen. Wer nicht fliehen kann oder will, versteckt sich - und hofft auf Befreiung durch die ukrainische Armee.
Mit der Verhängung des Kriegsrechts in den besetzten Gebieten der Ukraine hat Russlands Präsident Wladimir Putin formal eine Grundlage geschaffen, um auch Ukrainer zwangsweise zu rekrutieren. Damit steigt die Gefahr, dass sich an der Front bald Landsleute gegenüberstehen. Für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ist das ein Horrorszenario: In seiner täglichen Videoansprache rief er die Männer in den von Russland annektierten Gebieten erneut dazu auf, sich auf keinen Fall in die russische Armee einberufen zu lassen. "Vermeiden Sie das, wenn es irgend möglich ist!", sagte Selenskyj.
Wem es möglich sei, aus den Gebieten Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson zu fliehen, der solle dies tun. Wer nicht flüchten könne, der solle die Waffen niederlegen und zu den Ukrainern überlaufen. "Das Wichtigste ist, dass Sie Ihr Leben retten. Und helfen Sie unbedingt auch anderen!" Selenskyj hatte schon während der Scheinreferenden im September davor gewarnt, Russland könne ukrainische Männer in die russische Armee zu zwingen versuchen. Im besetzten Cherson gibt es zwar noch keine Aufrufe an Männer, sich zu registrieren. Die Menschen seien lediglich dazu aufgefordert worden, sich mit Bussen evakuieren zu lassen, berichtet ein Bewohner, der anonym bleiben will, auf Nachfrage von ntv.de. Die Angst, eingezogen zu werden, ist aber real. Auch deshalb halte er sich wenig draußen auf.
Der US-Militärexperte und Generalleutnant a.D., Mark Hertling, hält Zwangsrekrutierungen für durchaus möglich. Auf Twitter schreibt er, Putin greife zu einem Mittel aus dem 17. Jahrhundert, indem er versuche, die Ukrainer zu "dragonieren". Der Begriff geht zurück auf die "Dragoner", eine berittene Einheit der Infanterie in europäischen Armeen des 17. und 18. Jahrhunderts, hat allerdings in der englischen Verbform ("dragoon") auch die Bedeutung, jemanden zu einer Handlung zu zwingen. Der Ursprung des Wortes liegt in einer Zwangsmaßnahme des französischen Königs Ludwig XIV. aus dem Jahr 1689, um Frankreichs Protestanten zu missionieren: Sie wurden gezwungen, Dragoner auf eigene Kosten in ihren Häusern unterzubringen. Nicht selten plünderten, erpressten und misshandelten sie die Bewohner.
Krimtataren bereits zwangsrekrutiert
Hertling führt aus, dass der Begriff im Laufe des 17. Jahrhunderts zunehmend gebraucht wurde, um den Zwang gegen Einheimische, "gegen ihren Willen mit Waffen zu kämpfen", zu umschreiben - ohne, dass sie Loyalität für den Herrscher empfänden oder eine patriotische Pflicht zu erfüllen hätten. In der Regel sei ihnen nur die Wahl geblieben zwischen Kämpfen und Sterben. "Nur Despoten bauen auf diese Weise eine Armee auf", schreibt Hertling. Historische Beispiele gibt es reichlich. Auch Hitler ließ im Zweiten Weltkrieg rund 130.000 Männer aus Elsass-Lothringen zwangsweise in die Wehrmacht einziehen. Das wäre nun, im Falle einer Zwangsrekrutierung in den besetzten russischen Gebieten, nicht anders.
Es gab bereits mehrfach Berichte, wonach Russland Einberufungen unter Zwang vornimmt - und das nicht nur in Einzelfällen, wie das russische Exilportal Meduza im April berichtete. Demnach habe es im besetzten Donezk schon kurz nach Kriegsbeginn erste Zwangsrekrutierungen gegeben. Mit der Teilmobilmachung im September brachten Menschenrechtsaktivisten Vorfälle ans Licht, laut denen auf der Krim gezielt die ethnische Minderheit der Krimtataren - traditionell illoyal gegenüber Putin - eingezogen wurde. Auch von Razzien war die Rede. Hunderte Männer seien teils gewaltsam in einen Bus gesetzt und ins örtliche Militärhauptquartier gebracht worden.
Aus Mariupol wurde berichtet, dass die Stadt abgeriegelt worden sei. Niemand werde mehr hinausgelassen. Wadim Bojtschenko, der ehemalige Bürgermeister, sagte dem WDR, es sei klar, dass die Besatzer auf eine "sogenannte rechtliche Entscheidung warten, um mit der Mobilmachung zu beginnen". Diese Entscheidung ist in Form der Annexion am 30. September getroffen worden. Ebenso wie dieser Schritt sind auch Zwangsrekrutierungen völkerrechtswidrig - und würden die Liste der russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine weiter anwachsen lassen.
Ein weiterer strategischer Fehler Putins
Nach russischer Lesart sind alle Einwohner in den annektierten Gebieten russische Staatsbürger - und können demnach auch eingezogen werden. Eine Mobilmachung in den besetzten Gebieten böte Putin die Chance, seine enormen Probleme bei der Mobilmachung in Russland zumindest teilweise zu kaschieren - denn diese hat nicht nur einen Exodus von Männern im wehrfähigen Alter ausgelöst, auch die Folgen für Russlands Wirtschaft sind inzwischen spürbar. Gerade kleinere und mittlere Unternehmen kämpfen ums Überleben. Zusätzlich sorgen die Einberufungen für neue soziale Spannungen.
Der Kreml hat auch deshalb wiederholt betont, dass es keine neue Mobilisierungswelle geben wird. Offiziell heißt es, das Ziel sei erreicht worden. Nach russischen Angaben sind mehr als 220.000 Reservisten eingezogen worden. Doch die desaströse Versorgungslage und die schlechte Ausstattung selbst in den Trainingslagern hat sich auch in Russland mittlerweile herumgesprochen. Putin steht unter Druck. Zwangsrekrutierte Männer aus den besetzten Gebieten an die Front zu schicken, dürfte ihm angesichts der Debatten im eigenen Land klüger erscheinen; auch wenn er fürchten muss, dass die Männer reihenweise kapitulieren, Informationen an die Ukrainer durchstechen oder die eigene Armee sabotieren.
Die Annexionen, die Entführung von Zivilisten auf die Krim oder nach Russland, das "Dragooning" seien allesamt "Anzeichen von Putins anhaltendem strategischen Versagen", schlussfolgert Militärexperte Hertling. "Er improvisiert nur noch." Wer mit den Augen des preußischen Militärtheoretikers Carl von Clausewitz auf die kriegsentscheidenden drei Faktoren, "die Talente des Feldherrn, die kriegerische Tugend des Heeres und den Volksgeist desselben", schaue, könne nur auf die Ukraine wetten. Auch in Cherson tun das offenbar viele. Er wolle nicht in russische Busse steigen und sich "evakuieren" lassen, schreibt ein Bewohner. "Wir kaufen ein und warten, bis uns die ukrainischen Streitkräfte befreien."
Quelle: ntv.de