Politik

Krim besonders betroffen So sieht die russische "Mobilmachungs-Hölle" aus

Kaum ist die Teilmobilmachung angeordnet, zieht das russische Militär Tausende Männer ein. Ersten Berichten nach stammen sie vor allem aus südöstlichen Republiken. Auch die besetzte Krim ist stark betroffen, während "echte" Russen offenbar größere Chancen haben, davonzukommen.

Durch die Teilmobilmachung ist der Angriffskrieg gegen die Ukraine für die Russen kein reines TV-Spektakel mehr. Jetzt kämpfen und sterben nicht mehr nur Berufssoldaten und Söldnern. Jeder Mann, ob jung oder alt, muss damit rechnen, einberufen zu werden, wenn er vom Regime als Reservist eingestuft wird. Doch so wie schon jetzt in den Invasionstruppen ethnische Minderheiten überproportional vertreten sind, müssen sie wohl auch diesmal einen viel höheren Blutzoll leisten als "echte" Russen.

Bakhti Nishanov, ein Mitarbeiter der US-amerikanischen Kommission über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa twitterte gestern, alles, was er bisher gesehen habe, deute darauf hin, dass in Sacha (Jakutien), Burjatien, Dagestan und Tschetschenien unverhältnismäßig viel Männer mobilisiert würden. "Wenn sich dies bewahrheitet, handelt es sich zweifellos um einen systematischen Versuch, die ethnischen Minderheiten Russlands als Kanonenfutter einzusetzen", schreibt er.

"Auch ein Krieg gegen eigene nichtrussische Minderheiten"

Eine Einschätzung, die der bekannte Yale-Historiker Timothy Snyder teilt. Die russische Invasion in der Ukraine sei in gewissem Sinne auch ein russischer imperialer Krieg gegen die eigenen nichtrussischen Minderheiten, twitterte er. Wie bei der ersten russischen Offensive würden auch jetzt wieder größtenteils asiatische Soldaten sterben. Putins einziger "Erfolg" sei die Deportation ukrainischer Frauen und Kindern, die sich über ganz Russland verteilt assimilieren sollen, um das Land "weißer" zu machen.

Der tatarische Historiker und Journalist Kamil Galejew vermutet wie Synder, dass die Mobilisierung "Elemente einer ethnischen Säuberung" zeige. Es gäbe zwar noch keine belastbaren Daten, aber es sehe so aus, dass in großen Städten - vor allem Moskau und St. Petersburg - teilmobilisiert werde, in ländlichen Regionen mit ethnischen Minderheiten dagegen eine "totale Mobilmachung" stattfinde. Ihm lägen entsprechende schriftliche und akustische Aussagen vor.

Minderheiten schon länger "Kanonenfutter"

Harte Beweise, dass vor allem asiatische oder andere Minderheiten als "Kanonenfutter" in die Ukraine geschickt werden sollen, fehlen bisher. Eine große Überraschung wäre es allerdings nicht, da dies offenbar schon seit Beginn der Offensive der Fall ist. Im April wertete der russische Dienst der BBC eine Liste mit Namen und Herkunftsregionen von 1083 bestätigten Gefallenen aus. Dafür nutzte der Sender offizielle staatliche Quellen und lokale Medien.

Unter anderem stellte sich heraus, dass kein einziger Toter aus Moskau stammte, während 93 Gefallene aus Dagestan und 53 aus Burjatien kamen. Die russische Hauptstadt hat rund 13 Millionen Einwohner, Dagestan knapp 3 Millionen, Burjatien etwa 972.000. Laut "Riddle Russia" könnte dies auch teilweise daran liegen, dass das russische Militär eher Gefallene aus den Minderheiten bestätigt als die von ethnischen Russen und Slawen.

Laut "Foreign Policy" kamen die unabhängigen russischen Nachrichtenagenturen Mediazona und iStories Mitte Mai aber zu einem ähnlichen Ergebnis wie die BBC. Demnach hatten zu diesem Zeitpunkt Dagestan und Buration die höchsten Verluste.

Aus Armut freiwillig im Krieg

Der hohe Anteil von ethnischen Minderheiten in der russischen Invasionsarmee hat nicht nur mit Rassismus zu tun. Armut ist ein weiterer wichtiger Grund dafür. "Die meisten Soldaten und Offiziere der Bodentruppen und der Luftlandetruppen kommen aus armen russischen Städten und Dörfern", sagte der Militärexperte Pavel Luzin dem Nachrichtensender Al Jazeera. Junge Männer aus den Städten mit relativ guter Ausbildung dienten in anderen Waffengattungen.

Burjatien und andere ethnische Republiken gehörten zu den ärmsten Regionen Russlands, so "Foreign Policy". Für viele junge Männer dort sei ein Vertrag bei der Armee eine der ganz wenigen Optionen für ein geregeltes Einkommen und eine mögliche Karriere.

Die "ethnische" Karte wurde für Putin im Laufe des Krieges in der Ukraine offenbar auch immer wichtiger. Um die hohen Verluste auszugleichen, habe der Kreml wahrscheinlich den russischen föderalen Untertanen befohlen, Freiwilligenbataillone zu bilden, anstatt eine teilweise oder vollständige Mobilisierung in Russland zu erklären, schrieb das "Warsaw Institute" Ende Juli. Eine überproportionale Mobilisierung von ethnischen Minderheiten wäre in gewisser Weise eine direkte Fortsetzung dieser Politik.

Männer aus den Betten geholt

Dass dies der Fall sein könnte, lassen verschiedene Berichte vermuten. Anton Barbashin von "Riddle Russia" twitterte, Burjatien melde eine "Mobilmachungs-Hölle". Die Leute würden aus den Betten geholt, "bald wird es in den meisten Dörfern wie im Zweiten Weltkrieg nur noch Frauen, Kleinkinder und Senioren geben."

Die für deutsche Medien schreibende Journalistin Anastasia Tikhomirova hat einen Bericht der Sängerin Natalia Semyonova geteilt. Einberufungsbeamte hätten bei ihr geklingelt, um ihren vor zwei Jahren verstorbenen, lebend vollkommen wehrdienstuntauglichen und kranken Bruder einzuziehen, schreibt sie. Als sie gesagt habe, er lebe nicht mehr, habe man ihr zunächst nicht geglaubt.

"Yakutsk News" hat Audio-Aufnahmen von Jakuten aus einer Telegram-Gruppe veröffentlicht. "In meinem Dorf mit nur 400 Einwohnern wurden 40 Wehrpflichtige angefordert", sagt einer der Teilnehmer. Die Vorladungen wurden am 21. September nach 20:00 Uhr mit dem Befehl ausgestellt, am nächsten Tag um 6, 8 oder 9 Uhr an den Sammelpunkten zu erscheinen. Ein anderer Jakute erzählt von einem Dorf mit nur 500 Einwohnern, das 35 Männer schicken sollte. "Ohne sie werden nur Großeltern und mehrere junge Frauen mit Kindern im Dorf bleiben", sagt er.

"100-prozentige Mobilisierung"

Das Vorgehen scheint üblich zu sein. "The Guardian" zitiert eine Bewohnerin eines burjatischen Dorfes. Sie sagt, sei zum ersten Mal misstrauisch geworden, als um Mitternacht die Hunde gebellt hätten. In einer Gemeinde mit 450 Einwohnern ging der Dorfvorsteher von Haus zu Haus, um mehr als 20 Bescheide zu verteilen.

"Es ist keine Teilmobilisierung, es ist eine 100-prozentige Mobilisierung", sagte Alexandra Garmazhapova, Präsidentin der Free Buryatia Foundation, der Zeitung. Innerhalb von 24 Stunden nach Putins Anordnung habe sie von mehr als 3000 Einberufungen erfahren.

Dass die Militärbehörden auch in anderen ethnischen Republiken so vorgehen, sieht man unter anderem an einem Video, dass eine Bewohnerin aus Neryungri, der zweitgrößten Stadt in Sacha (Jakutien) gepostet hat. Es zeigt, wie vor dem Fußballstadion der Stadt Dutzende einberufene Männer in Busse verladen werden.

Krimtataren berichten von Razzien

Offenbar nutzt Putin die Teilmobilmachung auch dazu aus, die Krim zu "russifizieren". Ein Twitter-Nutzer schreibt, er habe mit Bekannten von dort telefoniert, der ihm von Razzien berichtet habe. 80 bis 90 Prozent der eingezogenen Männer sollen Krimtataren sein.

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Die Initiative "Crimean Idea" teilte gestern auf Facebook mit, laut Menschenrechtsaktivisten seien bereits rund 1000 Männer gewaltsam in einen Bus gesetzt und auf das Gelände des Militärhauptquartiers gebracht worden. Die Initiative betont, dass die Rekrutierung von Bewohnern besetzter Gebiete ein Kriegsverbrechen darstellt.

Sicher werden auch ethnische Russen aus Großstädten einberufen. Aber der Fall eines IT-Angestellten aus Moskau zeigt, dass es offenbar zweierlei Maßstäbe gibt. In einem Video sagt der Mann, er habe keinerlei militärische Erfahrung. Er sei verheiratet und müsse eine Hypothek abzahlen, aber er füge sich, um nicht ins Gefängnis zu kommen. Nachdem das Video viral gegangen war, muss er aber nicht mehr in den Krieg ziehen. Stattdessen wird er jetzt als "IT-Spezialist der Moskauer Territorialverteidigung" einberufen.

Quelle: ntv.de

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