"Sehr bedrückender" Moment Scholz reist nach Israel, der Krieg reist mit
02.03.2022, 15:07 Uhr
Scholz und Bennett in Yad Vashem.
(Foto: picture alliance/dpa)
Drei Tage nach seiner historischen, ziemlich einsam gefällten Entscheidung, 100 Milliarden Euro extra in die Verteidigung der Bundesrepublik zu stecken, reist der einstige Kriegsdienstverweigerer Olaf Scholz nach Israel. Er absolviert einen Antrittsbesuch im Zeichen des Krieges
Die Zeiten sind verrückt, keine Frage. Was man bereits daran erkennen kann, dass nun ausgerechnet der Kriegsdienstverweigerer und Zivildienstleistende Olaf Scholz als der Kanzler in die Geschichte eingehen wird, der die nach zwei angezettelten und verlorenen Weltkriegen tendenziell ins Antimilitaristische geschwenkte Nation in einer "nationalen Kraftanstrengung" auf- und hochrüstet. Das ist so etwas wie die Umkehrung aller Werte: Pflugscharen zu Schwertern! Für Scholz selbst dürfte das der größte Bruch in seiner persönlichen Geschichte sein, seit er sich vor gut drei Jahrzehnten vom Irrglauben an die sehr linke Lehre vom Staatsmonopolitischen Kapitalismus losgesagt hat.
Mit seinem mehr oder weniger im Alleingang durchgesetzten 100-Milliarden-Euro-Paket für die Verteidigung der Republik und den Waffenlieferungen an die Ukraine hat Olaf Scholz die Bundesrepublik aus ihrer merkwürdigen Zwitterrolle als vermeintlicher Vermittlermacht und tatsächlichem Bremsklotz geholt, in der er das Land selbst in seinen ersten Kanzlerwochen gehalten hat mit der bockbeinigen Haltung zu Nord Stream 2, den verwehrten Waffen und der anfänglichen Weigerung, Russland vom internationalen Zahlungsverkehr SWIFT auszuschließen. Das Land, das sich stets lieber mit Geld von internationalen Kriegspflichten freigekauft und sich dabei auf die Lehren und moralischen Verpflichtungen aus der Nazi-Barbarei berufen hat, dieses Deutschland der reinen Weste und des guten Gewissens liefert jetzt Waffen in ein Kriegsgebiet. Deutschland ist normal geworden, mit allen Risiken und Nebenwirkungen.
Auch Israel auf Zwitter-Position
Ende der notwendigen Vorrede. Drei Tage nach dieser epochalen Kehrtwende besucht Olaf Scholz Israel. Die Reise muss sein. Israel gehört zum Auftakt-Pflichtprogramm jedes Kanzlers. Er hat den ursprünglich auf drei Tage angelegten Besuch, der auch nach Jordanien und in die Palästinensergebiete gehen sollte, auf einen knappen Tag verkürzt, auf das Notwendigste. Eigentlich passt er nicht in die Zeit, und irgendwie dann doch sehr gut. Der ukrainische Präsident Selenskyj hat den israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett gebeten, zwischen Putin und der Ukraine zu vermitteln. Das könnte funktionieren, denn Israel nimmt eine ähnliche Zwitterrolle ein wie Deutschland noch vor wenigen Tagen: Das Land liefert Medikamente an die Ukraine, aber keine Waffen - und es beteiligt sich bislang nicht an den Sanktionen des Westens gegen Russland. Als Exporteur von Hochtechnologie könnte Israel eine entscheidende Lücke in den neuen Eisernen Wirtschaftsvorhang reißen.
Das ist der Rahmen für diese Reise, auf die Scholz bestand, ebenso wie es ihm wichtig war, diesen Besuch in Yad Vashem zu beginnen. Er war schon einmal in der Gedenkstätte für die sechs Millionen von Nazi-Deutschland ermordeten Juden; er kennt sie. Aber nun kommt er als Bundeskanzler, als Regierungschef der einstigen Massenmördernation. Kurz nach acht Uhr Ortszeit steht er in der Halle der Erinnerung, ein paar Meter links von ihm weiß in den Boden eingefasst als einer von 22 Erinnerungsorten der Name Babyn Jar; dort, auf dem Gebiet der Stadt Kiew, brachte die Wehrmacht 1941 binnen zweier Tage 33000 Juden um, Männer, Frauen, Kinder, wahllos. Babyn Jar gilt als das größte Massaker des deutschen Heeres im Zweiten Weltkrieg. Und nun wird das Gebiet von russischen Truppen überrollt, die Stadt bombardiert.
"...niemals vergessen!"
Der Besuch in Yad Vashem gehört zweifellos zu den größten emotionalen Härtetests für einen deutschen Politiker. Vielen standen schon die Tränen in den Augen. Scholz, die Mundwinkel sehr tiefhängend, hat sich im Griff. Was mag im Kopf des Kanzlers vorgehen in diesem Moment vor der ewigen Flamme und der Steinplatte, unter der die Asche von Opfern der Shoah liegt, während ein 14-köpfiger Mädchenchor "Eli, Eli" ("Mein Gott, mein Gott") singt, ein ergreifendes Lied, dessen jüdischer Komponist 1944 von den Nazis ermordet wurde? Wirklich erfahren wird man es wohl nie. Scholz neigt nicht dazu, die Öffentlichkeit allzu tief in sein Herz blicken zu lassen.
"Es war für mich sehr bedrückend", sagt er ein paar Stunden später bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit dem israelischen Ministerpräsidenten Bennett. In das Gästebuch von Yad Vashem trägt er die Sätze ein: "Das Menschheitsverbrechen der Shoah ließ die Welt in den Abgrund blicken. Der Massenmord an den Juden ging von Deutschland aus. Er wurde von Deutschen geplant und ausgeführt. Hieraus erwächst einer jeden deutschen Regierung die immerwährende Verantwortung für die Sicherheit des Staates Israel und den Schutz jüdischen Lebens. Wir werden das millionenfache Leid und die Opfer niemals vergessen!"
Kann man über Israel reden und schreiben und nicht an die Ukraine denken, in der auch 200.000 Juden leben? "Nie wieder!" Das gehörte zum moralischen Grundgerüst der Nachkriegs-Generation, der Scholz, Jahrgang 1958, angehört. Er spricht in diesen Tagen öfter mit seiner 86-jährigen Mutter, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat und ihre drei Söhne gewaltfrei erzog. Nie wieder! Auch Joschka Fischer hat einst die Grünen in den Bosnien-Krieg geführt mit dem Argument, auf dem Balkan drohe ein Völkermord und Auschwitz dürfe sich nie mehr wiederholen.
Lage in Ukraine "ganz, ganz dramatisch"
Wer nach Beweggründen dafür sucht, warum Olaf Scholz es in der vergangenen Woche für nötig befand, Deutschlands Kurs radikal zu ändern, wird womöglich, neben allen politischen Erwägungen, auch an dieser Stelle fündig. So gesehen passt der Besuch in Israel, wo sein Duz-Freund Naftali Bennett noch einmal daran erinnert, dass Israel aus Erfahrung wisse, "wie hoch der Preis des Krieges ist", dann doch außergewöhnlich gut in diese Zeit.
Illusionen, wie sehr man der Ukraine helfen kann, macht sich Scholz allerdings nicht. Die Lage ist ja längst nicht mehr nur "ernst", wie er noch vor Tagen immer wieder betonte, sie ist "ganz, ganz dramatisch". Und droht noch dramatischer zu werden. Nicht nur Putin ist ja offensichtlich davon überrascht, wie groß der Widerstand der Ukrainer ist. Die Ukraine führt nun einen vermutlich lang anhaltenden Stellvertreterkrieg für ein Europa, das zwar das Land bewaffnet, sich aber darüber hinaus um Gottes Willen nicht einmischen kann und will, um keinen dritten Weltkrieg heraufzubeschwören. Scholz sagt das in Jerusalem selten klar: "Wir werden nicht militärisch eingreifen. Das wäre falsch."
Auch der Kanzler kann nur hoffen
Der Kanzler spricht damit nicht nur für sich, sondern für den gesamten Westen. "Das ist das, was wir tun können." Russland ist eine nuklear hochgerüstete Supermacht, Putin hat schon mit seinen Atomwaffen gedroht. Das gebiete einen Kurs "zwischen Konsequenz und der notwendigen Vorsicht." Bennett, in dem Scholz seinen Meister im Nicht-Beantworten von Journalistenfragen finden könnte, steht daneben und nickt immer wieder.
Und dann? Was, wenn die Opferzahlen in der Ukraine immer höher werden? Wenn Kiew ein zweites Grosny zu werden droht? Eine Frage, auf die man an diesem Tag in Jerusalem keine wirkliche Antwort bekommt - allenfalls die, dass die Sanktionen gegen Russland ja bereits "massive Folgen" zeitigten und weitere folgen könnten. Dass sie und "sicherlich weitere Pakete" noch stärker wirken und Putin zum Verhandeln zwingen könnten - oder einen Machtwechsel in Moskau auslösen. Aber das sagt niemand laut, Scholz schon gar nicht.
Der Kanzler im Krisenmodus - warum sollte er nicht auch einmal hoffen dürfen auf eine als eigentlich unmöglich angesehene Wende im Kreml? Falls die Hoffnung trügt, wird Olaf Scholz seine Reise nach Jerusalem in der Rückschau fast als Erholungstrip betrachten.
Quelle: ntv.de