Reisners Blick auf die Front "Schwärme von Soldaten laufen im Artilleriefeuer nach vorn"
13.01.2025, 18:17 Uhr Artikel anhören
Kurachowe ist gefallen, Pokrowsk steht unter Beschuss. Was die russischen Erfolge für den Donbass bedeuten, und wieso in Kursk so viele Nordkoreaner fallen, erklärt Oberst Markus Reisner ntv.de.
ntv.de: Herr Reisner, als wir das letzte Mal sprachen, wurde um die Donbass-Stadt Kurachowe noch erbittert gekämpft. Nun ist sie in russischer Hand. Wie fatal ist der Verlust für die Ukraine?
Markus Reisner: Es geht hier um den Raum südlich von Pokrowsk - der logistisch wichtigen Donbass-Stadt, die schon seit Monaten umkämpft ist. Rund um Pokrowsk wird in drei Hotspots gekämpft, das ist das Gebiet westlich der Stadt, dann weiter im Osten bei der Stadt Torezk, die kurz vor der Einnahme steht, weil die Russen dort bereits in den nordwestlichen Außenbezirken angekommen sind. Im Südosten ist es der Hotspot bei Kurachowe, der nun gefallen ist. Hier erkennen wir deutlich, dass die Ukraine vor allem im Donbass ihr Gebiet nicht mehr verteidigt, sondern nur noch die Einnahme verzögert. Die ukrainischen Truppen gehen kontinuierlich Stück für Stück zurück.
Der Kessel von Kurachowe ist in den vergangenen Wochen geradezu berühmt geworden.
Weil die Ukraine hier so lange gegen die Invasoren gekämpft hat, ja. Es geht um die Stadt selbst und den Kessel, den die russischen Truppen um Kurachowe herum gezogen hatten, und der zu fast 95 Prozent eingedrückt ist.
Wenn die ukrainischen Verteidiger den Kessel aufgeben, wie stark wirkt sich das auf die Gesamtfront im Donbass aus?
Der Kessel hat eine lange Frontlinie, an der gekämpft wird. Wenn der zusammenbricht, dann verkürzt sich die Front ganz automatisch. Dadurch werden neue Kräfte frei, die Russland zum Beispiel an anderer Stelle einsetzen kann. Auch mit Blick auf Pokrowsk wirkt sich die Einnahme von Kurachowe aus. Die Russen versuchen dort, westlich der Stadt eine wichtige Versorgungslinie ins Zentrum hinein zu unterbrechen. Aber das ist nicht alles: Die Kämpfe um Kurachowe und Torezk zeigen, dass ein neues Schwergewicht auch im Osten und nordöstlich von Pokrowsk liegt. Die Russen versuchen tatsächlich, die Stadt von zwei Seiten zu umfassen und bei Torezk weiter Richtung Norden vorzustoßen.
Verteidigt sich die Ukraine nicht mehr, sondern verzögert nur noch, bedeutet das: Pokrowsks Einnahme ist nur noch eine Frage der Zeit? Eine Frage von Wochen?
Die Stadt selbst liegt schon im Feuer der Russen. Wir sehen nicht nur, wie die Artillerie der russischen Kräfte im Stadtgebiet einschlägt, sondern auch, wie sie dort mit First-Person-View-Drohnen Ziele angreifen. Das ist die Herausforderung für die Ukrainer, denn die Stadt kann nur gehalten werden, wenn sie nicht im unmittelbaren Feuerbereich der Russen liegt. Wenn jetzt auch noch die Logistik unterbrochen wird, also kein Nachschub mehr nach Pokrowsk durchdringt, keine Munition, keine Ausrüstung, Gerät oder Soldaten, dann ist die Stadt auf lange Sicht sehr schwer zu halten.

Markus Reisner ist Historiker und Rechtswissenschaftler, Oberst des Generalstabs im Österreichischen Bundesheer und Leiter des Institutes für Offiziersgrundausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Wissenschaftlich arbeitet er u.a. zum Einsatz von Drohnen in der modernen Kriegsführung. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Ukraine-Front.
(Foto: privat)
Wenn nun schon so lange um eine Stadt wie Pokrowsk gekämpft wird, was beide Seiten ja enorm fordert: Warum versucht nicht einer der beiden Gegner, mit einem großen Aufgebot an Truppen und einem ganz massiven Schlag da endlich Fakten zu schaffen?
Das fragen sich viele, aber die Herausforderung liegt darin, dass keine der beiden Seiten wirklich umfangreiche Kräfte bereitstellen kann. Zum einen kann keine der beiden Armeen massiv Kräfte bereitstellen, weil die Aufklärungsdrohnen des Gegners dies sofort erkennen würden. Dann könnte der Gegner schon im Vorfeld des geplanten Angriffs die feindlichen Kräfte im Prozess der Bereitstellung zerschlagen.
Eine Folge des "gläsernen Gefechtsfelds"?
Aufgrund dieser Transparenz auf dem Schlachtfeld versuchen vor allem die Russen auf unterster Gefechtstechnik, in sehr kleinen Gruppen von unter 15 Mann in einer Art Schleier in Richtung der gegnerischen Stellungen vorzugehen. Wo man eine Lücke erkennt, kommt es zum Einsatz größerer Kampfgruppen mit vier, fünf, manchmal auch zehn gepanzerten Fahrzeugen. Im Zusammenwirken ist da bis zu einem Bataillon an Kräften im Einsatz, aber es kommt nicht zu einer massiven Bereitstellung. Und das wird zum anderen auch aufgrund von schlichter Erschöpfung verhindert. Besonders die Russen sind abgekämpft, weil sie von der eigenen Führung bedingungslos nach vorn geschickt werden. Da stehen weiter hinten, in der Tiefe, keine Reserven mehr zur Verfügung, die einen großen Unterschied machen könnten. Darum sagen die Ukrainer, wir weichen zwar zurück, aber wir haben keine Angst vor einem massiven Durchbruchversuch.
Würde eine Einnahme von Pokrowsk nicht genau diesen Durchbruch durch die dritte Verteidigungslinie bedeuten?
Pokrowsk ist tatsächlich ein Teil der dritten Verteidigungslinie, und auch die Ukrainer selbst weisen immer wieder darauf hin, dass die Verteidigungsstellungen dahinter, also westlich von Pokrowsk, nur sehr gering ausgebaut sind. Bereits jetzt stehen die Russen nur wenige Kilometer vor der Oblastgrenze zu Dnipro-Petrowsk. Gelingt es den Russen, nach Westen an Pokrowsk vorbeizustoßen, dann besteht die Sorge, dass sie ohne viel Gegenwehr der Ukrainer durch den Oblast Dnipro-Petrowsk in Richtung der Stadt Dnipro vormarschieren könnten. Die ukrainische Armee hätte kaum Möglichkeiten, sie aufzuhalten. Ob es tatsächlich so weit kommt, wird man sehen. Die Erfahrung der vergangenen Jahre zeigt, dass Offensiven, die in kurzer Zeit massiv Land gewinnen können, eher Ausnahmen sind. Zumeist wird mit sehr hohen Verlusten um wenige Kilometer Boden gekämpft - im klassischen Abnutzungskrieg.
Wenn die Russen bis in den Oblast Dnipro-Petrowsk vorrücken, bedeutet das aber auch, dass sie erstes Gelände außerhalb der annektierten vier Oblaste erobern würden. Eine neue Phase?
Es ginge dann erstmals nicht mehr nur um Saporischschja, Cherson, Donezk, Luhansk und die Krim, sondern sie würden in den fünften Oblast vorstoßen und in Richtung seiner Hauptstadt. Auch hier sieht man: Die russischen Angriffe im Zentrum des Donbass sind zwar langsam, aber massiv und auf lange Sicht erfolgreich. Die drei Gruppierungen, Center, Jug und Wostok, drücken sich kontinuierlich und mit ganzer Kraft entlang der Frontlinie an.
Pokrowsk, das nun bald fallen könnte, galt immer als wichtiger Knotenpunkt ukrainischer Logistik. Wenn sie aber ohnehin eingekesselt ist, hat sie diese Funktion derzeit noch inne?
Nur sehr eingeschränkt. Weil das Nachschieben und Verteilen von Versorgungsgütern zunehmend schwierig ist. Mit Drohnen, mit Artillerieeinsatz beherrschen die Russen die Stadt. Sie können gezielt das Feuer auf Versorgungskonvois eröffnen. Sie können diese nicht umfänglich bekämpfen, aber die Logistik für die Ukraine wesentlich schwieriger machen.
Kann Kiew darauf reagieren?
Die ukrainischen Truppen haben ihre Versorgungslinien bereits in die Tiefe hinter Pokrowsk verlegt. Vor allem auch, weil sie versuchen müssen, einer möglichen Umfassung der Stadt entgegenzutreten, damit die Kräfte, die dort noch vor Ort kämpfen, sich noch rechtzeitig absetzen können. Noch gibt es zwei Versorgungsrouten hinein in die Stadt, aber die Russen stehen bereits 500 Meter vor einer der beiden Straßen. Wenn sie diese unterbrechen, bleibt faktisch nur noch eine einzige Route übrig.
Wenn die Bilanz im Donbass zeigt, dass die Ukrainer den Vormarsch der Russen nur noch verzögern: Wie sieht es im Raum Kursk aus, wo die Ukrainer zuletzt versuchten, das eroberte russische Gebiet wieder etwas auszudehnen?
Auch in Kursk wird die Lage für die Ukraine immer schwieriger. Die Russen erobern Stück für Stück des besetzten Gebietes zurück, und der ukrainische Gegenangriff, den Sie erwähnen, ist ganz klar gescheitert. Der versuchte Befreiungsschlag ist nicht gelungen. Die Ukrainer halten derzeit das Gelände noch, sie haben die Versorgungslinien unter Kontrolle, aber der Druck der Russen ist enorm. Täglich sehen wir Angriffe in bis zur Kampfgruppenstärke von mehreren Hundert Mann. Diese bilden Stoßtrupps, die langsam und unter schwersten Verlusten stetig vormarschieren
Der südkoreanische Geheimdienst bilanziert 3000 Verluste bei den nordkoreanischen Streitkräften auf russischer Seite. 300 Getötete, 2700 Verwundete. Glaubwürdige Zahlen?
Auch auf dieser Ebene tobt der Kampf im Informationsraum, man muss also mit Zahlen immer vorsichtig sein, weil jede Seite versucht, damit Propaganda zu betreiben. Wir wissen, dass die Ukrainer von Südkorea Unterstützung bekommen, auch durch nachrichtendienstliche Elemente. Die Zahl von 3000 Verlusten passt aber zu den Bildern und Videos, die wir von der Front sehen, und die zeigen, dass auch die Nordkoreaner völlig rücksichtslos in den Kampf geschickt werden. Da laufen ganze Schwärme von Soldaten, quasi in Schwarmlinie, im Artilleriefeuer nach vorn. Fast schon wie zu Zeiten des Ersten oder Zweiten Weltkriegs oder wie im Koreakrieg. Sie werden Opfer durch Artillerie, durch Drohnen, die Sprengkörper abwerfen oder sich in die Soldatengruppen stürzen. Selbst wenn die Zahl nicht exakt ist, zeigt sie zumindest einen Trend von sehr vielen Ausfällen, der auch auf den Videos von der Front zu sehen ist.
Es gibt ein Video, das nordkoreanische Gefangene zeigen soll, die verhört werden. Die Russen behaupten, es handele sich um russische Soldaten. Wozu tendieren Sie?
Die russische Seite will die Identität der Gefangenen mit russischen Pässen beweisen, die werden jedoch zum Teil auch gefälscht ausgestellt. Wer sich das Video ansieht, stellt fest, dass beide Soldaten verwundet sind, völlig orientierungslos und verschreckt wirken, und Fragen auf Nordkoreanisch beantworten. Die Südkoreaner waren auch involviert in diese Verhöre, um zu übersetzen. Wenn es Russen wären, würden sie im eigenen Interesse auf Russisch antworten, denke ich. Nochmal zur Zahl: 3000 Verluste würden bedeuten, dass bereits ein Viertel der Nordkoreaner ausgefallen ist, und das sehen wir auch in den Videos von der Front.
Können die Streitkräfte auf russischer Seite dieses Vorrücken ohne Rücksicht auf Verluste noch lange durchhalten?
Begründet sind diese massiven russischen Vorstöße in dem Ansinnen, vor Donald Trumps Amtseinführung noch Ergebnisse zu erzielen. Der 20. Januar wird aber kein Endpunkt der russischen Angriffsanstrengungen sein. Je nachdem, mit welcher Art Einigung Trump und Putin zusammenkommen, werden die russischen Truppen auch in den folgenden Wochen und Monaten weiter angreifen. Und das bedeutet für die Ukraine, dass weitere schwere Monate bevorstehen.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de