Streit um russische Kriegsgräuel Schwurbler gehen auch über Butschas Leichen
05.04.2022, 19:44 Uhr
Hier liegen einige der Opfer von Butscha begraben.
(Foto: REUTERS)
Es ist eine inzwischen altbekannte Masche. Angebliche Unstimmigkeiten werden zu "Beweisen" aufgeblasen, um das Offensichtliche als Lüge zu diskreditieren. Putins Propaganda tut dies. Die Schwurbler tun dies. Im Falle der Morde von Butscha ist es aber besonders widerlich.
Spätestens mit der jetzigen Veröffentlichung von Satellitenbildern, die bereits vor Wochen aufgenommen wurden, dürfte einwandfrei feststehen, dass die Gräueltaten im ukrainischen Butscha bereits unter russischer Besatzung begangen wurden. Die Bilder belegen, dass schon ab dem 11. März mindestens elf Leichen auf den Straßen des Ortes lagen. In den Wochen danach sind sie nicht bewegt worden.
Als am Wochenende die Meldung von den in Butscha offenkundig verübten Grausamkeiten die Welt schockierte, sprang die Propaganda-Maschine des Kremls jedoch sofort an. Natürlich folgte keine bedachte Reaktion, sich den Vorwürfen zu stellen und diese zumindest zu überprüfen. Stattdessen wurde wieder mal in Bausch und Bogen geleugnet, garniert mit verschiedenen Versionen, was denn angeblich tatsächlich passiert sei.
Mal wurde das Massaker als "inszeniert" abgetan. Demgemäß würden die Leichen wie in einem Theaterstück von Schauspielern nur "gespielt". Mal wurde der Massenmord an ihren Mitmenschen den Ukrainern selbst in die Schuhe geschoben. Mal wurde gar gemutmaßt, bei den Toten handele es sich in Wahrheit um russische Soldaten. Und natürlich wurde auch wie stets unterstellt, Drahtzieher des grausigen Spektakels seien doch eigentlich der Westen und die NATO.
Gegen Corona-Maßnahmen, pro Russland
Dass es für all diese abenteuerlichen Behauptungen keine Beweise gibt, stört dabei ebenso wenig wie der Fakt, dass sie sich mitunter fundamental widersprechen. So wie auch schon beim Angriff auf die Geburtsklinik in Mariupol, wo mal behauptet wurde, dort habe sich ein Lager des ukrainischen Militärs befunden, um wiederum ein anderes Mal zu erklären, die Attacke habe es ja gar nicht gegeben.
Es ist ein inzwischen nur allzu bekanntes und aus Sicht des Kremls vermutlich auch bewährtes Muster, das Offensichtliche abzustreiten, zu verdrehen und unter einer Dunstglocke von falschen Verdächtigungen und Lügen zu vertuschen. Nach dem Motto: Irgendetwas bleibt schon hängen. Wenn auch nur ein Funken Zweifel an der Täterschaft Russlands gestreut ist, hat die Propaganda schließlich ihr Ziel erreicht.
Doch nicht nur die Macht-Clique um Russlands Präsidenten Wladimr Putin greift darauf zurück. Auch hierzulande eifern Verschwörungserzähler, Schwurbler und rechte wie linke Extremisten in einer verstörenden Einigkeit dem nach. Viele der Köpfe und Publikationen, die bereits in der Pandemie Front-Figuren der Corona-Leugner, Maßnahmen-Kritiker und "Spaziergänger" waren, sind nun auch auf einen Kurs pro Russland eingeschwenkt.
Erste Bilder vom 1. April
Mit allen Konsequenzen, die da etwa lauten, sogar im Falle der Gräuel von Butscha über Leichen zu gehen. So werden alle möglichen "Beweise" nacherzählt oder zusammengekarrt, die die russische(n) Version(en) von den angeblichen Geschehnissen untermauern sollen. Der Effekt ist natürlich der gleiche wie bei der Kreml-Propaganda. In den sozialen Netzwerken ist die Verschwörungsmaschine längst angesprungen. Die Saat des Zweifels geht auf und die "alternativen Fakten" erscheinen manch einem gleichgewichtig zu dem, was zivilisierte Regierungen, Journalisten vor Ort, Menschenrechts- und Hilfsorganisationen, nüchterne Satellitenaufnahmen oder aber verzweifelte Bürger von Butscha zu berichten wissen.
Dabei ist noch lange nicht alles, was zunächst vielleicht Fragen aufwirft, sogleich ein "Beweis" für eine Wahrheit im russischen Sinne. So können mehrere der angeblichen Argumente, die Kreml und Schwurbler gleichermaßen für ihre Darstellung der Ereignisse vorbringen, inzwischen aufgeklärt, entkräftet oder auch widerlegt werden.
Das beginnt bereits bei der Behauptung, die Leichen seien erst am 4. April und damit Tage nach dem russischen Abzug Ende März aus Butscha plötzlich aufgetaucht. Tatsächlich belegen schon am 1. April bei Twitter gepostete Videos, dass die Toten unmittelbar nach der Übernahme der Stadt durch die ukrainische Armee aufgefunden wurden. Die mittlerweile veröffentlichten Satelliten-Fotos tun ihr Übriges, um die Unterstellung, die Menschen seien womöglich erst in den ersten Apriltagen von den Ukrainern selbst ermordet oder gar nur als Leichen auf den Straßen drapiert worden, zu entlarven.
Erklärungen des Bürgermeisters
Dafür, dass die Russen die Gräuel gar nicht begangen hätten, wird vielfach ein Video des Bürgermeisters von Butscha, Anatoly Fedoruk, als "Beleg" angeführt, das dieser unmittelbar nach dem Abzug der russischen Einheiten aus der Stadt veröffentlicht hatte. Tatsächlich feiert Fedoruk in dem 42 Sekunden langen Clip in - zugegeben - martialischen Worten die "Befreiung" von den "russischen Orks", ohne dabei auf das Massaker in seiner Stadt einzugehen. Dass er dies in seiner kurzen, erleichterten Jubelrede nicht tut, beweist jedoch gar nichts.
Vielmehr lässt sich ebenso festhalten, dass er in etwa zur selben Zeit auch ein Video eines Bewohners auf seiner Facebook-Seite postete, in dem unter anderem auch bereits von verminten Leichen die Rede war. In einem Interview mit ihm, das die Deutsche Welle am 3. April veröffentlichte, spricht er zudem folgende Sätze: "Die Leichen hingerichteter Menschen säumen noch immer die Jablunska-Straße in Butscha. Ihre Hände sind mit weißen 'zivilen' Fetzen auf dem Rücken gefesselt, man hat ihnen in den Hinterkopf geschossen." Er wolle jetzt aber eigentlich gar nicht über die Aufarbeitung der Verbrechen sprechen, betont er. "Sie werden verstehen, was für eine Erleichterung wir jetzt empfinden", stellt er stattdessen in den Fokus - ganz so wie in seiner ersten Reaktion nach dem russischen Abzug.
Dass an einigen Leichen weiße Armbänder entdeckt wurden, wird ebenso hergenommen, um Zweifel an der russischen Täterschaft in Butscha zu streuen. Behauptet wird, diese Bänder hätte dazu gedient, Menschen, die zur Kooperation mit den Besatzern bereit seien, zu markieren. Weshalb hätten die Russen ausgerechnet die Kollaborateure ermorden sollen, lautet entsprechend die Frage. Ukrainischen Darstellungen zufolge hatten die Bänder jedoch vielmehr den Zweck, Personen zu kennzeichnen, die ausdrücklich keine Mitglieder des Militärs, sondern Zivilisten seien. Ein kleiner, aber dann doch äußerst feiner Unterschied.
Es war "die Hölle"
Am eindeutigsten lassen sich sicher die Behauptungen widerlegen, einige der Leichen in Butscha hätten sich auf wundersame Weise bewegt - und seien damit als Schauspieler enttarnt. So machte etwa ein Video die Runde, in dem einer der Toten einen Arm zu bewegen schien. Bei genauer Betrachtung ist jedoch klar zu erkennen, dass die vermeintliche Bewegung auf einen Wassertropfen zurückgeht, der Schlieren auf der Kameralinse zieht.
Ein anderer Clip sollte zeigen, wie einer der Toten sich im Rückspiegel eines vorbeifahrenden Autos aufgerichtet habe. Das wiederum lässt sich als eine typische optische Täuschung erklären, da die meisten Außenspiegel eine Krümmung haben, um so das Blickfeld zu vergrößern. Weil die Leiche bei der Fahrt ins Zentrum des Rückspiegels gerät, scheint sie sich für einen Moment zu bewegen.
All das wird jedoch überragt von den Augenzeugenberichten, die über die Situation in Butscha während der russischen Besatzung inzwischen vorliegen. Diese fallen dabei durchaus differenziert aus und legen nahe, dass sich nicht alle der von Putin entsandten Soldaten an Verbrechen beteiligten. "Wir haben das Gefühl, dass verschiedene Einheiten um Butscha herum verstreut waren. Sie haben sich sehr unterschiedlich verhalten", zitiert etwa das russisch-sprachige Online-Magazin "Meduza" mit Sitz in Lettland eine Bewohnerin namens Katerina Ukrainzewa. "Diejenigen, die auf der Jablunska liegen, starben bei chaotischen Schießereien. Diejenigen, die von dort herausgekommen sind, sagen, es sei die Hölle gewesen", fügt sie hinzu.
Quelle: ntv.de