"Kein Zweifel, er muss gehen" Selbst die eigene Partei wendet sich gegen Netanjahu
19.10.2023, 12:52 Uhr Artikel anhören
Seit der vergangenen Woche regiert Ministerpräsident Netanjahu in einer Notstandsregierung, die Teile der Opposition einschließt.
(Foto: via REUTERS)
Solange der Krieg gegen die Hamas andauert, dürfte es auch in Netanjahus eigener Partei keine Revolte gegen den Ministerpräsidenten geben. Dennoch heißt es aus dem Likud, Netanjahu sei "erledigt".
In Israel zeichnet sich immer deutlicher ab, dass die politische Karriere von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu dem Ende entgegengeht. Nach einem Bericht der israelischen Zeitung "Ha'aretz" hat er auch in seiner eigenen Partei, dem nationalkonservativen Likud, kaum noch Unterstützer.
Zentraler Grund für die Abkehr vom Parteivorsitzenden: Netanjahu wird nicht nur von politischen Gegnern, sondern auch von der Likud-Basis dafür verantwortlich gemacht, dass Israel nicht auf einen Angriff aus dem Gazastreifen vorbereitet war. Das kratzt am Kern von Netanjahus Image, der sich über Jahre als "Mr. Economy", vor allem aber als "Mr. Security" inszenierte.
"Die Likud-Basis weiß, dass Netanjahu erledigt ist", sagte ein hochrangiger Likud-Vertreter der "Ha'aretz". Die Stimmung dort sei "wie bei einem Vulkan, dessen Lava sich erhitzt". Der Einschätzung dieser Quelle zufolge wird Netanjahu vorgeworfen, jahrelang eine "feige Politik" verfolgt zu haben, "die das Unvermeidbare zu verschieben suchte und Operationen wie eine Besetzung des Gazastreifens unterließ".
Nicht nur Netanjahu wird gehen müssen
Kritik an Netanjahus Gaza-Politik gibt es aber auch aus anderer Richtung. Von liberaler Seite wird dem Ministerpräsidenten vorgeworfen, auf eine Stärkung der Hamas gesetzt zu haben, um die palästinensische Autonomiebehörde zu schwächen. Diese Strategie habe die Hamas von einer kleinen Terrorgruppe zu einer Armee werden lassen, deren Sturmtruppen am 7. Oktober ins Land einfielen, um Hunderte israelische Zivilisten abzuschlachten.
Vorwürfe gibt es gegen Netanjahu auch deshalb, weil er sich von rechtsradikalen Parteien abhängig gemacht hat, besonders von der nationalistischen Partei Otzma Jehudit unter Itamar Ben-Gvir, Minister für nationale Sicherheit. Der von "Ha'aretz" zitierte hochrangige Likud-Politiker sagte, Netanjahu habe den Likud gezwungen, eine weit rechts stehende Regierung zu bilden, "die einen Riss durch die Nation verursachte". Ein ebenfalls namentlich nicht genannter Likud-Vertreter, der als Minister dem Kabinett angehört, machte der Zeitung gegenüber deutlich, dass nicht nur Netanjahu werde gehen müssen: "Jeder, der glaubt, dass er der Verantwortung für das schrecklichste Versagen seit Gründung des Staates entkommen kann, macht einen großen Fehler." Das Schicksal der Regierung sei am 7. Oktober besiegelt worden.
"Nach dem Krieg muss er gehen"
Noch vor einer Woche hätten Likud-Vertreter Netanjahu verteidigt und die Verantwortung für das sicherheitspolitische Versagen auf Militär und Geheimdienste geschoben. Jetzt sei es schwierig, in der Partei jemanden zu finden, der die Likud-Spitze in Schutz nehme. Zugleich sei aber auch klar, dass mit einer Ablösung des Ministerpräsidenten gewartet werde, bis der aktuelle Konflikt mit der Hamas vorbei sei. "Der Krieg könnte ein Jahr dauern", zitiert "Ha'aretz" ein Kabinettsmitglied, "und wenn das der Fall ist, wird es für Netanjahu nicht leicht sein, zu überleben - obwohl ich im Moment kein Szenario sehe, in dem er aus dem Amt gezwungen wird. Aber wenn die Kämpfe zu Ende sind, gibt es keinen Zweifel, dass er gehen muss."
Netanjahu, der bereits mehrere Korruptionsskandale überstanden hat, ließ bislang nicht erkennen, dass er sich einer Mitverantwortung dafür bewusst ist, dass der israelische Staat die Sicherheit seiner Bürger nicht garantieren konnte. Genau dieser Punkt hat weite Teile der Bevölkerung traumatisiert. "Es war, als ob der Staat Israel aufhörte zu existieren", sagte beispielsweise ein Israeli aus dem Kibbuz Be'eri im Gespräch mit ntv.de. Be'eri war am 7. Oktober verwüstet worden, hier wurden mindestens 130 Menschen von den Terroristen der Hamas ermordet, einige Einwohner wurden als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt.
Statt seine Mitverantwortung einzuräumen, hat Netanjahu versucht, sich mit scharfer Rhetorik zu profilieren. In seiner ersten Ansprache nach dem Hamas-Überfall sagte er, Israel werde die Terrororganisation "zerquetschen und zerstören" - ein Versprechen, das er in dieser Deutlichkeit kaum wird einhalten können. Ins Grenzgebiet am Gazastreifen, etwa in den Kibbuz Be'eri, fuhr er erst eine Woche nach dem 7. Oktober. Kurz zuvor hatte eine Umfrage der Zeitung "Ma'ariv" gezeigt, dass die Zustimmung zum Likud eingebrochen ist. Bei Wahlen würde sie jetzt nur noch 19 Sitze in der Knesset erhalten, nachdem sie bei der Wahl im vergangenen November noch auf 32 gekommen und damit stärkste Fraktion geworden war. Und noch gravierender für Netanjahu: Nur noch 29 Prozent der Israelis sehen ihn als geeignet für das Amt des Ministerpräsidenten.
Quelle: ntv.de, hvo