Die Fraktion ist unzufrieden Selenskyj kommt innenpolitisch leicht ins Schwanken


Umfragen zeigen: Das Vertrauen der ukrainischen Bevölkerung in Selenskyj ist weiterhin hoch. Aber bei einer Wahl hätte er aktuell wahrscheinlich Probleme.
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Zu einem Nach-Krisen-Treffen mit Präsident Selenskyj erscheint nur die Hälfte seiner Fraktion im ukrainischen Parlament. Auch wenn Selenskyj weiterhin fest im Sattel sitzt: Es ist eine Art indirektes Misstrauensvotum.
Es ist eine komplizierte Zeit für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Zwar hat die russische Sommeroffensive an der Front nicht die Ergebnisse gebracht, die Moskau sehen wollte. Trotzdem bleibt die Lage für die ukrainischen Streitkräfte schwierig. Außerdem müssen Selenskyj und sein Büro sich täglich mit den USA und ihrem Präsidenten Donald Trump beschäftigen. Aus dem Weißen Haus sind zuletzt zwar wieder positivere Töne über die Ukraine zu hören. Aber das kann schon morgen wieder anders aussehen.
Auch innenpolitisch sieht es für Selenskyj im Moment nicht gerade rosig aus. Zwar konnte die Krise rund um die Einschränkung der Befugnisse der Antikorruptionsbehörden eingedämmt werden. Ein Gesetz, das die Sonderstaatsanwaltschaft für Korruption (SAP) und das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) zumindest indirekt unter Selenskyjs Einfluss stellen sollte, wurde rasch zurückgenommen. Die Straßenproteste haben sich damit erledigt. Jedoch bewahrheitet sich langsam, was viele vorausgesagt haben: Es kriselt innerhalb der Selenskyj-Partei "Diener des Volkes". Im Parlament verfügt sie über eine absolute Mehrheit. Sie stimmte dort erst für, dann gegen die Einschränkung der Unabhängigkeit von NABU und SAP.
Zweites Treffen im Oktober
Wie die renommierte "Ukrajinska Prawda" berichtet, stand schon im Juli, während der wohl größten innenpolitischen Krise in der Ukraine seit dem russischen Großüberfall, ein Treffen zwischen dem Präsidenten und seiner Fraktion auf der Agenda. Die Abgeordneten wollten von Selenskyj wissen, was eigentlich los ist und wie sie sich verhalten sollen - zumal das Präsidentenbüro versuchte, die Fraktion allein für die Annahme des umstrittenen Gesetzes verantwortlich zu machen.
Zu einem Treffen kam es allerdings erst am 16. September. Und erfolgreich verlief es laut "Ukrajinska Prawda" keineswegs: Fast die Hälfte der Fraktion der Diener des Volkes erschien gar nicht erst. Zudem waren umstrittene Fragen wie zu NABU und SAP bei dem Treffen höchstens am Rande ein Thema. Obwohl abwesende Abgeordnete damit kaum etwas verpasst haben, war die Teilnahmequote ein Schlag ins Gesicht des ukrainischen Präsidenten, der mit einer deutlich höheren Anwesenheit gerechnet hatte. Im Oktober soll sich Selenskyj erneut mit seiner Fraktion treffen. Dem Journalisten Roman Romanjuk zufolge werden die Abgeordneten nun aufgefordert, dann deutlich organisierter zu erscheinen.
Innenpolitisch ist der Vorgang kaum zu unterschätzen. 2019 hat nicht nur Selenskyj selbst haushoch die Präsidentschaftswahl gewonnen. Auch seine Partei bekam damals etwas überraschend eine stabile absolute Mehrheit in der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament. Durch Abgänge und Ausschlüsse ist diese Mehrheit schon vor Jahren verloren gegangen: Die Stimmen der Präsidentenpartei reichen längst nicht mehr aus, um auf die nötige Zahl 226 Stimmen zu kommen - so viele braucht es, um ein Gesetz zu verabschieden. Schon länger sind die Diener des Volkes daher auf die Unterstützung anderer Fraktionen und kleinerer Parlamentsgruppen angewiesen. Bisher haben solche Kooperationen ausgereicht, um die für den Präsidenten wichtigen Gesetze zu verabschieden.
Vertrauen in Selenskyj ist weiterhin hoch
Dies ist insofern relevant, als die Ukraine - wie beispielsweise auch Frankreich - eine semipräsidentielle Republik ist, in der das Parlament trotz der Macht des Präsidenten viele Rechte hat. Weil Selenskyj und seine Partei 2019 alles abräumten, agieren die Werchowna Rada und auch das ukrainische Kabinett seither als eine Art verlängerter Arm des Präsidentenbüros. Sollten die Diener des Volkes weitere Mandate verlieren und es für die Verabschiedung von Gesetzen nicht mehr reichen, wäre dies eine tektonische Veränderung in Zeiten des Krieges. Ob es wirklich dazu kommt, ist allerdings unklar.
Neuwahlen kommen angesichts des Krieges nicht infrage. Unabhängig davon wäre Selenskyjs Wiederwahl aktuell alles andere als sicher. Zwar ist unklar, ob der Präsident überhaupt für eine zweite Amtszeit bereitstünde. Dazu hat Selenskyj selbst unterschiedliche Angaben gemacht. Unumstritten ist jedoch, dass zumindest sein Team an seiner Kandidatur höchst interessiert wäre.
Dennoch bleibt das Vertrauen der Bevölkerung in den Präsidenten vergleichsweise hoch, auch wenn es nach dem starken Anstieg infolge der berühmt-berüchtigten Szene im Oval Office am 28. Februar 2025 einen leichten negativen Trend gibt. Und auch wäre es für Selenskyj durchaus möglich, den ersten Wahlgang zu gewinnen. Eine veröffentlichte Umfrage der Rating Group Ende August zeigt, dass der amtierende Präsident 35,2 Prozent holen würde, während sein vermeintlicher Hauptkontrahent, der ehemalige Armeechef und heutige Botschafter in London, Walerij Saluschnyj, 25,3 Prozent bekommen könnte.
… aber seine Wahlchancen wären nicht gut
Der gleichen Umfrage zufolge ist das Vertrauen in Saluschnyj allerdings höher als in Selenskyj - 74 Prozent gegen 68 Prozent. Auf dem dritten Platz in Sachen Vertrauen findet sich ein weiteres bekanntes Gesicht aus dem Militär: der Chef des Militärgeheimdienstes HUR, Kyrylo Budanow. Doch obwohl das Umfrageinstitut keine Angaben über die Ergebnisse einer möglichen Stichwahl macht, legen frühere Erhebungen nahe, dass Saluschnyj Selenskyj in einer solchen schlagen würde. Auch gegen andere Kandidaten wie Budanow hätte Selenskyj Probleme.
Weder bei Selenskyj noch bei Saluschnyj und Budanow ist klar, ob sie sich überhaupt zur Wahl stellen würden. Selenskyj sitzt weiterhin fest im Sattel. Aber der Skandal rund um NABU und SAP hat ihm geschadet - und gerade mit Blick auf die Funktionsfähigkeit des Parlaments muss er aufpassen, dass diese keinen Schaden nimmt.
Quelle: ntv.de