Politik

"Wir waren den Stalinismus satt" Wie der Frühling in Prag zum Winter wurde

Dutzende kamen beim Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts ums Leben.

Dutzende kamen beim Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts ums Leben.

Alle wussten um die Gefahr. Und doch wagten die Tschechen und Slowaken 1968 ein erstaunliches Experiment: einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Michal Reiman erlebte wie so viele im Land den Freudentaumel - und die Panzer.

Noch am Abend, bevor die Panzer jede Hoffnung niederwälzten, trafen sie sich bei einem Freund. Die Unterhaltung drehte sich vor allem um eine Frage: Kommen sie oder kommen sie nicht? Am nächsten Morgen erwachten Michal Reiman und seine Frau Tamara in aller Frühe durch lautes Telefonklingeln. Freunde riefen an und aus der Befürchtung wurde Gewissheit: Sie waren gekommen. Hunderttausende Soldaten des Warschauer Pakts waren in die Tschechoslowakei einmarschiert. Es war der  21. August 1968, der Prager Frühling fand ein jähes Ende.

"Alle, die am Prager Frühling beteiligt waren, wussten, wie groß die Gefahr war", erinnert sich Reiman. Der inzwischen 88-Jährige wohnt mit seiner Frau in Berlin, wo er auch an der Freien Universität Professor für Politikwissenschaft war. "Wir hatten vor Augen, wie sowjetische Truppen zuvor den Aufstand in Ungarn 1956 niedergeschlagen hatten und Polen unter Druck setzten. Dennoch hofften wir lange, dass ein Kompromiss möglich sei und die Tschechoslowakei ihre Reformen fortsetzen könne."

Nur wenige Monate zuvor hatten die Reformen begonnen. Anfang Januar 1968 löste Alexander Dubček als Generalsekretär der Kommunisten den Bürokraten Antonin Novotny ab. Er entfachte bald einen Reformtaumel in dem Land, in dem es schon länger brodelte. Innerhalb weniger Monate war die ganze Atmosphäre verändert. Die Gesellschaft schwamm auf einer "Welle der massenhaften Trunkenheit von Demokratie", so der Reformer Cestmir Cisar. Die Begeisterung für Dubček war riesig, nicht nur in der Partei, sondern auch in der breiten Bevölkerung. "Er war ein sehr netter Mensch. Er sprach dieselbe Sprache wie wir", sagt Reiman, der damals an der Parteihochschule in Prag Geschichte lehrte und den Prager Frühling unterstützte. "Und wir hatten den Stalinismus so satt."

Mit Dubček, so schien es, konnte die Partei nun endlich die stalinistischen Verbrechen der 1950er-Jahre aufarbeiten und Reformen beginnen. Am 4. März wurde die Zensur aufgehoben - ein bis dahin unvorstellbarer Vorgang im Ostblock. Im April folgte das "Aktionsprogramm" der Kommunistischen Partei, das Dubcek später als "eine der wichtigsten Hinterlassenschaften des Prager Frühlings" bezeichnete. Ziel war es, "zum Aufbau eines neuen Modells der sozialistischen Gesellschaft aufzubrechen, das zutiefst demokratisch und im Einklang mit tschechoslowakischen Bedingungen ist". Die Rede- und Versammlungsfreiheit wurde eingeführt, Reisen ins westliche Ausland wurden erlaubt. Die Wirtschaft sollte liberalisiert werden. Mehr noch: Die Kommunistische Partei verzichtete sogar auf ihr Machtmonopol. Weiter hieß es: "Wir müssen dafür sorgen, dass unfähige, aber dafür anpassungsfähige Menschen wirklich gegen solche ausgetauscht werden, denen der Sozialismus am Herzen liegt (…) und nicht ihre eigene Macht und ihr Vorteil."

"Niemand wollte Konflikte mit Moskau"

Dabei richtete sich der Versuch eines "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" nicht gegen die Sowjetunion. "Wir waren nicht antirussisch, die Beziehungen waren traditionell gut", sagt Reiman. Wie etliche Tschechen und Slowaken und andere Osteuropäer hatte er in der Sowjetunion studiert, wo er auch seine spätere Frau kennenlernte. Viele seiner Landsleute erinnerten sich in den 60er-Jahren noch mit Dankbarkeit daran, wie die Rote Armee 1945 das Land von den Nationalsozialisten befreit hatte und später auch wieder abzog. "Die UdSSR war unser Verbündeter im Krieg. Niemand wollte Konflikte mit Moskau."

Auch Dubček war aus Moskauer Sicht eigentlich ein perfekter Kandidat für das Amt des Parteichefs. So hatte er als Kind lange in der Sowjetunion gelebt, weil seine Eltern dort den Kommunismus aufbauen wollten. Später studierte er an der Moskauer Parteihochschule der KPdSU. Umso größer war dann die Überraschung, dass gerade Dubček, der Moskau doch so wohlgesonnen war, plötzlich eigenständig agierte.

In den sogenannten sozialistischen Bruderstaaten zeigten sich die Führungen alarmiert und fürchteten eine Ausbreitung des Prager Virus. Als in Polen etwa Studenten mit dem Slogan "Polen wartet auf seinen Dubček" auf die Straße gingen, wuchs dort die Angst. Der polnische Parteichef Wladyslaw Gomulka sah in der Tschechoslowakei "die imperialistische Reaktion und die Feindes des Sozialismus", SED-Chef Walter Ulbricht warnte in Ost-Berlin den tschechoslowakischen Botschafter vor einer Rehabilitierung der Opfer stalinistischer Gewalt. Diese liefere der "Weltpresse" Material für ihren Kampf gegen das sozialistische System. "Warum müssen Sie die Toten ausgraben?" Der Chef der KPdSU und Staatschef der Sowjetunion, Leonid Breschnew, sah bald gar eine "Konterrevolution" im Gange, die nicht nur die Tschechoslowakei betreffe.

In Prag wuchs die Sorge. Noch einmal trafen sich sowjetische Vertreter mit der Prager Führung in der ostslowakischen Grenzstadt Cierna nad Tisou und später in Bratislava. Es sollte alles vergeblich sein. Reimans Frau Tamara erlebte die Verhandlungen in Cierna nad Tisou als Dolmetscherin und beschrieb später die bedrohliche Atmosphäre dort: "Es wurde ganz klar gesagt: Ihr weicht vom Weg ab, wir werden dies nicht dulden, sondern euch auf unsere 'proletarische' Art auf den richtigen Weg bringen." Dennoch konnte sie sich damals eine gewaltsame Niederschlagung des Aufstands nicht wirklich vorstellen.

Größte Militäroperation seit 1945

Wenige Wochen später war es soweit, rund 500.000 Soldaten aus Polen, Ungarn, Bulgarien und der UdSSR überrollten die Tschechoslowakei. Es war die größte militärische Operation in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Viele, die den Prager Frühling unterstützt hatten, versammelten sich auf den Straßen - oft aus Angst, in der eigenen Wohnung verhaftet zu werden. Niemand wusste, was die Besatzer als Nächstes tun würden.

Doch diese hatten es vor allem auf die kommunistische Führung abgesehen, Dubček und andere hochrangige Regierungsmitglieder wurden festgenommen und nach Moskau verschleppt. Viele Tschechen und Slowaken hatten Angst, dass diese nicht mehr zurückkommen würden. Die sowjetischen Führer schienen den im eigenen Land extrem beliebten Dubček allerdings noch zu brauchen - um seine eigenen Reformen wieder rückgängig zu machen.

Noch im August unterzeichnete dieser das "Moskauer Protokoll", das einer Kapitulation gleichkam und fast alle Errungenschaften des Prager Frühlings begrub. Es war wohl ein Versuch, das Schlimmste zu verhindern und mögliche Zusammenstöße von aufgeheizten tschechoslowakischen Arbeitermilizen mit den Besatzern zu vermeiden. Wenig später kehrte Dubček nach Prag zurück und bat sein Land mit stockender Stimme, einig zu sein. Präsident Ludvik Svoboda, der auch in Moskau verhandelt und sich im Krieg den Titel "Held der Sowjetunion" erworben hatte, erklärte am selben Tag, dass die Wunden, die geschlagen worden seien, "noch lange bluten werden".

Allein durch die Niederschlagung des Prager Frühlings kamen Dutzende Menschen ums Leben. Dubček hielt sich nicht mehr lange im Amt, später wurde er zum Waldarbeiter in der slowakischen Provinz degradiert. Wie Hunderttausende im Land wurde er aus der Partei ausgeschlossen. Viele seiner Anhänger verloren ihre Arbeit, wurden verhaftet oder anderweitig drangsaliert. Auch Reiman musste sich einem Parteikomitee stellen. Nach einer stundenlangen Befragung sollte er schließlich sagen, ob er mit dem Einmarsch der sowjetischen Armee einverstanden war. "Selbstverständlich nicht", war seine Antwort. Als "Ideologe der Rechten" wurde er daraufhin aus der Partei ausgeschlossen, auch er verlor seine Arbeit, der Druck auf seine Familie war groß. Schließlich emigrierte er 1976 - wie Zehntausende Tschechen und Slowaken bereits in den Jahren zuvor. "Wir wussten, dass wir verloren hatten und mussten uns irgendwie mit dieser Situation abfinden."

Quelle: ntv.de

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