Politik

"Steigerung der Enthemmung" So funktioniert die russische Propaganda

Zerstörungen in Borodjanka nahe Kiew.

Zerstörungen in Borodjanka nahe Kiew.

(Foto: IMAGO/NurPhoto)

Fast täglich werden russische Kriegsverbrechen in der Ukraine bekannt. Der Kreml reagiert darauf mit seiner Propagandamaschine. Die soll Gegner enthumanisieren und allgemeine Verwirrung stiften. Dass dies gelingt, hat seine Gründe.

Ob es Zufall war oder gewollt, lässt sich nicht sagen. Aber der Zeitpunkt machte den Horror von Butscha noch unerträglicher. Ausgerechnet am Sonntagmorgen, als die Weltöffentlichkeit langsam das Ausmaß der Verbrechen an der Zivilbevölkerung in dem Vorort von Kiew zu begreifen begann, erschien auf der Internetseite der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Ria Novosti ein Beitrag des Publizisten, Politikstrategen und Filmproduzenten Timofey Sergeytsev. Der Titel des als Meinungsstück deklarierten Textes: "Was Russland mit der Ukraine tun sollte". Darin spricht Sergeytsev der Ukraine nicht nur das Recht auf einen Staat ab und fordert eine "Entnazifizierung", sondern ausdrücklich auch eine "Ent-Ukrainisierung" des Landes - sowohl durch den Tod ukrainischer Soldaten als auch die Umerziehung der Zivilbevölkerung.

Es ist nicht das erste Mal, dass Sergeytsev wegen seines Hasses gegen die Ukrainer auffällt. 2014 wurde in der Ukraine der von ihm produzierte Film "Match" verboten, der sich mit dem sogenannten "Todesspiel von Kiew" befasst, bei dem 1942 eine Kiewer Mannschaft gegen eine Auswahl der Flugabwehr der Wehrmacht angetreten war und gewann. Verboten wurde der Film, weil die Ukrainer in dem Werk negativ, etwa als Kollaborateure, dargestellt wurden. Doch mit seinem aktuellen Text erreicht selbst Sergeytsev eine neue Dimension des Hasses. Denn im Zusammenhang mit den schrecklichen Nachrichten aus Mariupol, aus Butscha und mittlerweile auch den anderen Vororten Kiews, aus denen sich die russische Armee zurückzog, liest er sich nicht nur wie eine Rechtfertigung der dort begangenen Kriegsverbrechen, sondern gar wie ein Aufruf zum Völkermord.

Entmenschlichung der Ukrainer

Vieles, was in dem Text steht, ist nicht neu. So begründete Putin den Einmarsch russischer Truppen neben der "Entmilitarisierung" der Ukraine, auch mit einer "Entnazifizierung" des Landes und konnte sich dabei auf die Unterstützung regierungsnaher Medien verlassen. Das Narrativ von einer "faschistischen Junta" in Kiew gehört seit dem Maidan 2014 und dem damit verbundenen Sturz des damaligen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch zum festen Bestanteil der staatlichen Presse Russlands. Nicht neu ist auch, dass der Ukraine jede Eigenstaatlichkeit abgesprochen wird. Während Putin in den vergangenen Jahren den Historiker mimte und in Essays zu belegen versuchte, Russen und Ukrainer wären ein Volk, diskutierten in den Talkshows des Staatsfernsehens Gäste über die Aufteilung der Ukraine.

Nach dem Sergeytsev-Text könnten nun einige seiner russischen Leser das Gefühl bekommen, dass die Ukrainer dieses schreckliche Schicksal vielleicht sogar verdienen. "Die Propaganda wurde zwar schon nach der Krim-Annexion 2014 enthemmter, doch was jetzt passiert, ist eine weitere Steigerung dieser Enthemmung", sagt Jens Siegert, Russland-Experte und langjähriger Leiter des Moskauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, gegenüber ntv.de. "Die Ukrainer werden entmenschlicht", fasst Siegert zusammen, der auch darauf verweist, dass dies ebenfalls für die innenpolitischen Gegner gelte. "Erst vor einigen Wochen bezeichnete Putin innenpolitische Gegner als Fliegen. So werden die Menschen quasi indirekt auf alles Mögliche vorbereitet, und sie sind dann auch nicht mehr von solchen Nachrichten wie aus Butscha überrascht", fasst der Politikwissenschaftler zusammen.

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Propaganda durch Verwirrung

Trotz des Textes von Sergeytsev ist der wichtigste Tenor der Propaganda immer noch, die russische Armee von allen Vorwürfen freizusprechen. In der sonntäglichen Polittalkshow des berüchtigten Propagandisten Wladimir Solowjow im staatlichen Sender Rossija 1 stellte der in Russland bekannte Kriegsreporter Jewgenij Podubnij gleich zwei Versionen der Geschehnisse in Butscha vor. So behauptete er in seiner Schalte, es handele sich um eine Inszenierung des "Kiewer Regimes", bei der die Toten von Schauspielern dargestellt wurden. Kurz darauf erklärte er jedoch, die Toten seien echt, aber die Täter wären Ukrainer gewesen.

Zwei widersprüchliche Versionen innerhalb weniger Minuten - dies verweist auf den Kern der Propaganda-Methoden des Kreml, bei denen es nicht darum geht, eine Alternative zur Realität plausibel zu machen, sondern gleich mehrere Realitäten zu schaffen. Das Ziel ist es, Verwirrung zu stiften. Die Historikerin Corinna Kuhr-Korolev sagt über private Gespräche mit Freunden in Russland: "Man merkt schon, dass die Leute Zweifel daran haben, ob ihre Version wirklich die richtige ist. Aber man merkt auch, dass sie diesen Zweifeln nicht nachgeben wollen. Im Grunde führt die russische Propaganda dazu, dass die Leute sagen: Man weiß einfach nicht, was die Wahrheit ist."

Neu ist dieses Vorgehen nicht. Bereits nach dem Abschuss der MH17 im Jahr 2014 über der Ostukraine wurden immer neue Versionen in die Welt gesetzt, um von der eigenen Verantwortung für den Tod von 298 Menschen abzulenken. Diese Methode wird ebenfalls im Ukraine-Krieg verwendet. Auch für den verheerenden Bombenangriff auf ein Kinderkrankenhaus in Mariupol Anfang März lieferte Moskau zwei unterschiedliche Versionen. Während man einerseits von einer Inszenierung der Ukrainer sprach, begründete man anderseits den Angriff mit dem Asow-Bataillon, das sich in dem Krankenhaus verschanzt haben soll - in der einen Version gab es keinen Angriff, in der anderen schon, aber er war gerechtfertigt. Mittlerweile konzentriert Russland sich bei dem Angriff auf das Kinderkrankenhaus auf die Version der angeblichen ukrainischen Inszenierung und benutzt dabei ausgerechnet die Mariupoler Beauty-Bloggerin Mariana Vishegirskaja als Kronzeugin. Die zum Zeitpunkt des Angriffs hochschwangere Frau war auf Bildern und Videos als eine der Überlebenden des Angriffs zu sehen. Nun behauptet Vishegirskaja, die nach dem Angriff unter ungeklärten Umständen nach Russland gelangte, in einem Video, dass es sich um eine Inszenierung gehandelt habe.

"Der Westen ist nicht besser"

Zeitgleich mit dem Kriegsbeginn wurde in Russland auch die Zensur verschärft. Mit dem Ergebnis, dass nicht nur renommierte liberale Medien wie der Radiosender Echo Moskwy, der Internetsender TV Rain oder die bekannte Zeitung "Nowaja Gaseta" zumindest zeitweise ihre Arbeit einstellen mussten, sondern auch viele unabhängige Lokalmedien. Das bedeutet nicht, dass die Russen keinen Zugang mehr zu anderen Informationen hätten. Allein auf dem in Russland populären Messengerdienst Telegram gibt es viele vom Kreml unabhängige Kanäle, die über den Krieg in der Ukraine berichten. Auch in staatlichen Medien sieht man Bilder des eingekesselten und zerstörten Mariupol, die das Leid in der Stadt offenbaren.

Doch diese Tatsachen scheinen viele Russen zu verdrängen. Die russische Propaganda funktioniere, sagt Kuhr-Korolev, "weil viele Leute versuchen, solche Darstellungen in ihr Weltbild einzufügen. Sie werden das auch weiterhin tun." Jens Siegert verweist auf den Unterschied zu früheren Zeiten: "In der Sowjetunion behauptete die Propaganda, dass man besser und erfolgreicher als der Westen sei. Was spätestens ab den 1980er-Jahren keiner mehr geglaubt hat. Unter Putin änderte die Propaganda ihr Narrativ und behauptete nicht mehr, dass man besser sei, sondern dass der Westen nicht besser ist als Russland." Eigenes Erleben tat ein Übriges. "Als der Westen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Russland kam, brachte er nur seine hässliche Seite wie Armut und wilden Kapitalismus mit", erklärt Siegert. Eine Erfahrung, die auch den Nachrichtenkonsum geprägt hat: Wenn wir lügen, warum sollen wir dann glauben, dass die anderen nicht auch lügen?

Quelle: ntv.de

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