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Reisners Blick auf die Front "Südkorea könnte Ukraine in großem Stil Waffen liefern"

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Granaten einer ukrainischen Artillerieeinheit in der Region Donezk.

Granaten einer ukrainischen Artillerieeinheit in der Region Donezk.

(Foto: picture alliance / Anadolu)

In der Ukraine rücken die russischen Truppen weiter vor. "Das Rad zu Ungunsten der Ukraine dreht sich immer schneller", sagt Oberst Reisner im Interview mit ntv.de. Eine Wende könnte Südkorea bringen. Das Land könnte die Ukraine mit Waffenlieferungen unterstützen. Doch kommt es dazu?

ntv.de: Herr Reisner, vergangene Woche hat Russlands Präsident Wladimir Putin beim BRICS-Gipfel gezeigt, dass er noch Verbündete hat. Ist er stärker, als wir im Westen denken?

Markus Reisner: Russland tritt immer selbstbewusster auf und will zeigen: Es ist zurück auf der Weltbühne. Man kann sich darüber streiten, ob die BRICS-Konferenz gescheitert ist oder nicht. Fakt ist, die russische Wirtschaft wird von diesen Verbündeten aufgefangen. So nimmt Indien beispielsweise große Mengen an Öl ab und verkauft es auch nach Europa weiter.

Markus Reisner ist Oberst im Österreichischen Bundesheer.

Markus Reisner ist Oberst im Österreichischen Bundesheer.

(Foto: privat)

Derweil marschieren die Russen im Donbass weiter vor. Wie ist die Lage aktuell?

In den letzten Tagen gerät die Front südlich von Pokrowsk immer mehr in Bewegung. Pokrowsk steht als wichtiger Logistikknotenpunkt im Donbass seit Wochen unter Druck. Die Russen haben ihren zentralen Vormarsch auf die Stadt selbst angehalten und begonnen, an den Flanken nördlich und südlich anzugreifen. Wir haben in der letzten Woche russische Flaggenhissungen in über acht neuen Dörfern gesehen. Das heißt, die Russen rücken langsam und stetig vor. Ich schätze, zwischen zweieinhalb und fünf Kilometern pro Tag. Das ist sehr viel. Südlich von Pokrowsk bildet sich bei Kurachowe gerade ein großer Kessel.

Rund 80 Prozent der ukrainischen Energie-Infrastruktur sind beschädigt oder zerstört. Wie soll die Ukraine durch den Winter kommen?

Der Winter wird besonders hart, die russischen strategischen Angriffe werden weitergehen. Mittlerweile fliegen bis zu 120 Drohnen iranischer Bauart pro Tag ein, etwa alle 14 Tage gibt es Angriffe mit Raketen und Marschflugkörpern. Inzwischen werden die Russen weiter versuchen, auf operativer Ebene Durchbrüche zu erzielen. Sie selbst haben noch ein gutes Ressourcenpolster, auch wenn sich die Arsenale leeren.

Russland scheint den Druck weiter zu erhöhen.

Richtig. Selenskyj zufolge wurden vergangene Woche 1100 Gleitbomben abgeworfen, vor 14 Tagen waren es noch 900. Es werden also immer mehr. Das gilt auch für die iranischen Drohnen und den Artillerieeinsatz. Man nimmt an, Nordkorea könnte jetzt zum zweiten Mal drei Millionen Artilleriegranaten liefern. Das wird es der Ukraine schwer machen, dagegenzuhalten. Russland wird auf jeden Fall mit einer neuen Winteroffensive bis zum Frühjahr weitermachen. Die Russen werden versuchen, in eine möglichst gute Ausgangsposition für etwaige Verhandlungen zu kommen.

Wie ist die Lage in der russischen Region Kursk? Kämpfen dort bereits Nordkoreaner?

Es gibt noch keinen eindeutigen Beweis, dass Nordkoreaner bereits in Kampfhandlungen verwickelt sind. Die Ukraine gerät dennoch unter Druck. Die Russen sagen, sie hätten 2000 Ukrainer eingekesselt. Genau ist das nicht zu erkennen. Vielsagend ist aber, dass die Ukraine einen Eliteverband, die 47. Mech-Brigade, nach Kursk geschickt hat. Es sieht danach aus, dass sie die möglicherweise eingekesselten Soldaten befreien sollen.

Wie schätzen Sie die bisherige Reaktion Südkoreas ein? Was spräche für das Land dagegen, jetzt die Ukraine mit Waffen zu beliefern?

Südkorea hat immer klargemacht: Wenn Nordkorea sich stärker engagiert, auch mit eigenen Truppen, sieht man sich gezwungen, ebenfalls mehr zu unterstützen. Südkorea fürchtet eine Stärkung der nordkoreanischen Armee durch den Einsatz in Russland. Die überlebenden Soldaten können Kampferfahrung weitergeben, außerdem könnte Russland den Einsatz durch die Weitergabe moderner Technologien an Nordkorea vergelten.

Wie sehr könnte Südkorea der Ukraine helfen?

Südkorea wäre in der Lage, der Ukraine in großem Stil Waffen zu liefern. Damit könnten sie die Lücke schließen, die die Europäer nicht schließen können und die Amerikaner nicht schließen wollen. Schon jetzt liefert es große Mengen an Waffen nach Polen.

Eine solche Hilfe Südkoreas hätte also eine immense Bedeutung für den weiteren Verlauf des Krieges.

So ist es. Die Frage ist aber, ob die Hilfe rechtzeitig käme. An der Front bewegt sich das Rad zu Ungunsten der Ukraine immer schneller. Die Ukrainer müssten ja auch an südkoreanischen Fahrzeugen und Waffen ausgebildet werden. Das dauert eine Weile. Kein Problem wäre dagegen Artilleriemunition. Die ist kompatibel.

Am Wochenende sagte CDU-Chef Friedrich Merz, es sei nicht gerade ein Zeichen der Stärke Russlands, dass sie die Hilfe Nordkoreas brauchen. Hat er da nicht recht?

Schon. Aber am Ende des Tages ändert das nichts für die Ukraine. Fakt ist, dass die 12.000 nordkoreanischen Soldaten die Lage für die Ukraine weiter verschlechtern. Wir sollten uns eher fragen, was wir tun können, um diesen zusätzlichen Kräften etwas entgegenzuhalten. Wir sollten uns die Lage nicht schönreden.

Tun wir das denn?

Nehmen Sie das Beispiel Wirtschaft. Die russische Wirtschaft knirscht, das ist tatsächlich so. Aber durch seine Verbündeten ist Russland in der Lage, das aufzufangen. Das müsste die Ukraine im Krieg auch können. Das kann sie aber nicht. Sie muss immer um jede Waffenlieferung betteln. Und wenn sie dann kommt, ist es meist zu spät. Es scheint so, als hätte Russland die besseren Verbündeten.

Putin warnt den Westen vor dem Einsatz von Langstreckenwaffen. Das würde bedeuten, die NATO sei im Krieg mit Russland. Wie ernst ist das zu nehmen?

Völkerrechtlich gibt es genaue Kriterien, ab denen man Kriegspartei wird. Kämpfen beispielsweise NATO-Soldaten Schulter und Schulter mit den Ukrainern an der Front, wäre das eine Kriegsbeteiligung. Das Zweite wäre, eine Partei in der militärischen Operationsführung maßgeblich zu unterstützen. So, dass das Ergebnis beispielsweise im Rahmen einer erfolgreichen Offensive eindeutig ist. Und dann gibt es natürlich viele Graubereiche.

Putin ist das Völkerrecht doch ohnehin egal. Ihn kümmert nur seine Sichtweise.

Stimmt. Nach seiner Lesart wäre der Einsatz von weitreichenden westlichen Marschflugkörpern gegen Russland eine Kriegsbeteiligung. Denn aus seiner Sicht sind die Ukrainer nicht ohne westliche Hilfe in der Lage, die Ziele aufzuklären und einzuprogrammieren. In den USA nimmt man das ernst. Die Gefahr einer Eskalation wird dort gesehen, viel mehr als in Europa.

Von Experten heißt es oft: Putin hat immer gedroht, aber dann doch nicht eskaliert. Sei es bei den Mardern, den Leoparden oder den F16.

Das ist schon richtig. Aber die, die sich auskennen, sind trotzdem vorsichtiger. Die Militärs nehmen das schon sehr ernst. Es geht auch nicht nur um militärische Eskalation. Denken Sie an das brennende Postpaket auf dem Flughafen Leipzig vor zwei Wochen. Das sollte offenbar an Bord eines Flugzeugs während des Fluges explodieren. Russland wird als Drahtzieher vermutet. Auch in solchen Sabotageakten könnte eine Eskalation bestehen.

Was sollte also getan werden?

Ich bin Soldat, das ist eine politische Entscheidung. Es muss aber eine Entscheidung getroffen werden, denn sonst endet dieses Elend nicht. Entweder der Ukraine entscheidend helfen oder sich mit einer Rest-Ukraine abfinden im Gegenzug für Frieden. Passiert das nicht, haben wir weiter dieses Fegefeuer, das niemandem etwas bringt. Ich persönlich glaube, man hat sich hinter den Kulissen bereits für die zweite Variante entschieden. Sonst würde die Ukraine ja stärker unterstützt. Das passiert aber nicht.

Sie haben sich immer für eine stärkere Unterstützung der Ukraine ausgesprochen.

Ich glaube auch weiterhin, dass das zu unserem Vorteil wäre. Aber die Menschen wollen keinen Krieg mehr, auch keine stärkere Hilfe der Ukraine. Das zeigen verschiedene Wahlergebnisse, auch bei den Landtagswahlen in Deutschland. Es ist eine unerträgliche Situation. Ich habe nächtelang darüber nachgedacht, wie man da herauskommt und welche historischen Beispiele es dafür geben könnte. Aber Atomwaffen, eine hybride Kriegsführung in einer vernetzten Welt, dies hat viel verändert und uns sehr angreifbar gemacht. Daher glaube ich, die US-Strategie ist die einzig richtige. Sie versuchen, langsam immer mehr Druck auf Russland aufzubauen, damit Putin selbst irgendwann einsieht, dass er nicht weitermachen kann. Nur bislang ist diese Einsicht nicht zu erkennen. Wenn diese Strategie nicht aufgeht, dann wird die Ukraine, so wie wir sie kennen, aufhören zu existieren.

Mit Markus Reisner sprach Volker Petersen

Quelle: ntv.de

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