Politik

Über 10.000 zivile Opfer Taliban-Terror tödlicher als jemals zuvor

Szene nach einem Selbstmordanschlag in Kabul. Terror gehört in der Millionenstadt zum Alltag.

Szene nach einem Selbstmordanschlag in Kabul. Terror gehört in der Millionenstadt zum Alltag.

(Foto: REUTERS)

Niemals zuvor wurden in Afghanistan so viele Terror-Tote registriert. Die Taliban sind auf dem Vormarsch. Zwar ist die Zahl der zivilen Opfer insgesamt gesunken - allerdings erweist sich diese vermeintlich gute Nachricht als trügerisch.

Es klingt erstmal nach einer guten Neuigkeit für ein Land, in dem seit Jahren blutiges Chaos herrscht: Einem aktuellen Bericht der Vereinten Nationen zufolge ist die Zahl der zivilen Opfer im Afghanistan-Konflikt zuletzt zurückgegangen. Zudem bieten die Taliban der afghanischen Regierung und den USA an, friedliche Gespräche zu führen, um den Krieg zu beenden. Vielversprechende Nachrichten also? Im Gegenteil: In Afghanistan, das die Bundesregierung offiziell als sicheres Herkunftsland bezeichnet, stehen die Zeichen weiter auf Tod und Zerstörung. Die Situation verschärft sich weiter, die Zahl der zivilen Opfer - betrachtet man allein die Terroranschläge - erreicht einen historischen Höchststand.

Aus einem aktuellen Bericht der Vereinten Nationen geht hervor, dass die Zahl der zivilen Opfer in dem Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und ihren westlichen Verbündeten auf der einen Seite, sowie den radikalislamischen Taliban auf der anderen, so niedrig sei wie seit 2013 nicht mehr. Im Vergleich zum Vorjahr sank die Zahl um knapp neun Prozent auf 10.453 - das sind 3438 Tote und 7015 Verletzte. Offiziell heißt es, die Opferzahlen seien zurückgegangen, weil die afghanische Armee mehr Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nehme, etwa keine ungelenkten Geschosse mehr in dicht besiedelte Gebiete feuere.

 

Doch es gibt auch eine andere Erklärung für den Rückgang: "Dass wir 2017 weniger zivile Opfer gesehen haben, liegt auch einfach daran, dass die Taliban ihre Herrschaft über bestimmte Gebiete konsolidiert haben. Wo sie Gegenden voll kontrollieren, gibt es eben keine Kämpfe mehr", sagte ein UN-Mitarbeiter, der namentlich nicht genannt werden will, der Deutschen Presse-Agentur.

Tatsächlich breitet sich die radikalislamische Miliz wieder mit Macht besonders im Norden des Landes aus. Seit Ende 2015 haben die Taliban das Territorium, das sie kontrollieren, um ein Viertel ausgedehnt. Nach US-Angaben leben heute rund 3,7 Millionen von insgesamt 33 Millionen Afghanen unter dem Regime der Dschihadisten. Weitere neun Millionen Menschen leben demnach in Gebieten, in denen sich der Einfluss der Taliban und ihrer Gegner etwa die Waage hält. Der Vormarsch zeigt sich auch in der Provinz Badachschan. Hier kontrollieren die Taliban zwei Bezirke und dutzende Dörfer vollständig. Das Besondere daran: In Badachschan konnte die Miliz selbst zum Höhepunkt ihrer Macht zwischen 1996 und 2001 nicht Fuß fassen.

 

Mit dem Vormarsch der Taliban wachsen außerdem die blinden Flecken - die Gebiete also, in denen die Beobachter nicht arbeiten können. In ihrem Bericht warnen die Vereinten Nationen, dass sie vermutlich "unterberichten". Das heißt, dass die tatsächliche Zahl ziviler Opfer weitaus höher sein dürfte. Die UN-Beobachter in Afghanistan benötigen für jedes offiziell registrierte Opfer drei unabhängige Quellen. Diese sind aber in den zunehmend umkämpften Provinzen mit immer weniger UN-Beobachtern im Feld kaum noch zu bekommen.

Fast unverändert hoch ist die Zahl getöteter Kinder: 2017 wurden dem Bericht zufolge 3179 Minderjährige verletzt (2318) oder getötet (861). Zwar war dieser Wert 2016 mit 3516 Opfern noch höher. Doch der Vergleich mit 2013, dem Jahr, als die internationale Schutztruppe Isaf die Verantwortung über die Sicherheit an die afghanische Regierung zurückgegeben hatte, zeigt, wie sehr sich die Lage verschlechtert hat. Damals waren fast halb so viele Kinder unter den zivilen Opfern (1764).

Besorgniserregend ist auch, dass die Zahl der bei Terroranschlägen Verletzten oder Getöteten den höchsten jemals registrierten Wert erreicht hat. 2300 Menschen wurden demnach bei Anschlägen verletzt oder getötet, ein Anstieg um 17 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Ein Brennpunkt bleibt dabei vor allem die Hauptstadt Kabul, die von einer Reihe deutscher Politiker wiederholt als "relativ sicher" bezeichnet wurde. Aus dem UN-Bericht geht hervor, dass die Taliban und der IS bei Terroranschlägen in Kabul knapp 500 Zivilisten getötet und mehr als 1200 verletzt haben. Die afghanische Hauptstadt verzeichnet etwa jedes sechste zivile Opfer.

 

Und wie ist das Gesprächsangebot der Taliban zu bewerten? In einem seltenen Statement wandten sich die Islamisten gestern an das "amerikanische Volk" und äußerten ihren Willen, den seit 17 Jahren andauernden Krieg durch Gespräche zu beenden. "Unser Ziel ist es, das Afghanistan-Problem durch einen friedlichen Dialog zu beenden", heißt es. Es ist nicht das erste Mal, dass die Miliz derartige Gespräche anbietet. Wie auch in der Vergangenheit sind diese jedoch an klare Bedingungen gekoppelt: den Abzug aller ausländischen Streitkräfte. Zudem müssten die USA akzeptieren, dass die Taliban eine Regierung für Afghanistan stellen.

Abgesehen davon, dass es ausgeschlossen erscheint, dass sich die US-Regierung auf derartige Forderungen einlässt, stehen die Zeichen der Trump-Administration zurzeit nicht auf Dialog. Der US-Präsident will mehr Soldaten, mehr Luftangriffe und lässt in seinen Reden keinen Zweifel daran aufkommen, wie er diesen Konflikt lösen will. "Mit Trumps neuer Afghanistanstrategie, mehr Soldaten im Land, viel mehr Luftangriffen und scharfer Rhetorik gegen die Taliban sehen wir gerade eine Eskalierung, keine Beruhigung der Lage", sagt ein westlicher Diplomat in Kabul der Deutschen Presse-Agentur. Beide Seiten, die Taliban wie auch die USA, setzten nun auf "theatralische Gewalt".

"Die USA fliegen für Luftangriffe mit den B-52 die größten Bomber, die sie haben, und die Taliban füllen Ambulanzen mit Sprengstoff", sagt der Experte. "Wenn sich das fortsetzt, sehen wir 2018 neue Rekorde von Zivilopfern."

Quelle: ntv.de

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