Politik

Islamisten vor den Toren Kabuls Taliban erobern vorletzte große Stadt Afghanistans

In Kabul gibt es Zeltlager mit Menschen, die vor den Taliban geflohen sind. Manche davon sollen ausgeflogen werden.

In Kabul gibt es Zeltlager mit Menschen, die vor den Taliban geflohen sind. Manche davon sollen ausgeflogen werden.

(Foto: AP)

Die radikalislamischen Taliban kontrollieren inzwischen fast ganz Afghanistan. Nun fällt Dschalalabad. Kabul ist noch nicht in ihren Händen. Die USA und die Bundeswehr wollen Tausende Menschen ausfliegen - ein Wettlauf mit der Zeit. Biden macht indes wenig Hoffnung auf eine Rückkehr der US-Truppen.

Die radikalislamischen Taliban haben auch die ostafghanische Stadt Dschalalabad eingenommen. Die Hauptstadt der Provinz Nangarhar sei kampflos an die Taliban gegangen, sagten Bewohner von Dschalalabad. Laut einem afghanischen Behördenvertreter ergab sich der Gouverneur. Dies sei die einzige Möglichkeit gewesen, das Leben von Zivilisten zu retten. Damit ist die Hauptstadt Kabul die letzte große Stadt des Landes, die nicht von der radikalislamischen Miliz kontrolliert wird.

Zuvor war Masar-i-Scharif, wo rund 500.000 Menschen leben, an die Islamisten gefallen. Es ist unklar, wie lange sich Präsident Aschraf Ghani angesichts der brisanten Lage noch halten kann. Afghanistan-Experte Thomas Ruttig von der Denkfabrik Afghanistan Analyst Networks sagte, es sei "sehr, sehr unwahrscheinlich", dass sich die Entwicklung noch drehen könne.

Die Bundesregierung hat entsprechende Schritte eingeleitet. Die deutsche Luftwaffe wird nach Informationen der "Bild am Sonntag" am Montag mit Militärtransportern vom Typ A400M nach Kabul fliegen, um Deutsche und Helfer und ihre "Kernfamilie" aus Afghanistan wegzubringen. Bei der Aktion ginge es zusammengerechnet um insgesamt womöglich bis zu 10.000 Personen. Sie haben im Laufe der letzten Jahre unter anderem für die Bundeswehr, das Auswärtige Amt, die Entwicklungshilfe oder andere deutsche Organisationen gearbeitet und müssen nun um ihr Leben fürchten: Die rasch auf Kabul vorrückenden Taliban haben ihnen als "Kollaborateuren" Rache geschworen. Erste Helfer, auch deutscher Medien, wurden bereits ermordet.

Auch in Masar-i-Scharif könnten sich weiter Ortskräfte der Bundeswehr befinden. An ihnen werden Racheaktionen der Taliban befürchtet. Viele waren angesichts der steigenden Gefahr in den vergangenen Wochen bereits nach Kabul übergesiedelt. Eine ehemalige Bundeswehr-Ortskraft in Kabul sagte, seine Familie weine vor Angst, seit sie die Nachricht des Falls der Stadt erreicht habe. Sie gingen davon aus, dass Kabul auch bald eingenommen werde.

Biden bekräftigt Abzug aus Afghanistan

Die USA haben bereits mit der Evakuierung ihrer Botschaft in der afghanischen Hauptstadt Kabul begonnen. Der Rettungseinsatz sei zunächst mit einer kleinen Gruppe gestartet worden, aber auch der Großteil des Personals sei zum Abzug bereit, teilten zwei US-Vertreter mit. US-Präsident Joe Biden kündigte an, statt der zunächst vorgesehenen 3000 würden rund 5000 US-Soldaten eingesetzt, um die Ausreise des Botschaftspersonals und unzähliger ziviler Ortskräfte zu sichern. Er warnte die Taliban davor, die Mission zu behindern. Angriffe auf US-Interessen würden rasch und energisch beantwortet.

Zugleich verteidigte Biden seine Entscheidung, das US-Militär nach 20 Jahren aus Afghanistan abzuziehen. Er sei der vierte US-Präsident, der die Verantwortung über diese Truppenpräsenz getragen habe, erklärte er. "Ich werde diesen Krieg nicht an einen fünften Präsidenten weitergeben."

Die SPD-Verteidigungspolitikerin Siemtje Möller warnt davor, den Siegeszug der Taliban in Afghanistan tatenlos hinzunehmen. "Der Westen muss an der Seite der Afghanen bleiben. Wir dürfen dort nicht als Komplettversager vom Platz gehen", sagte Möller dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Deutschland müsse die afghanische Regierung und Armee weiter unterstützen.

Bundestagsmandat für erneuten Einsatz der Bundeswehr

Die Taliban sind offenbar deutlich schneller vorgerückt, als von der Bundesregierung erwartet: Gestern Morgen kamen nach Informationen von ntv mehrere Minister und Kanzlerin Angela Merkel für eine eilige Beratung zusammen, um zu sondieren, ob es für einen Evakuierungseinsatz der Bundeswehr eine parlamentarische Mehrheit gibt. Das alte, noch laufende Bundestagsmandat decke diese Rettungsmission nicht, heißt es aus Regierungskreisen.

Nach Einschätzung der FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann wäre der Einsatz auch ohne neues Bundestagsmandat möglich. "Grundsätzlich beinhaltet das Mandat 'Mission Resolute Support', das bis zum 31. Januar 2022 läuft, Sicherung, Schutz, Evakuierung und Bergung militärischer und ziviler Kräfte sowie Evakuierung diplomatischer und konsularischer Vertretungen", sagte Strack-Zimmermann. Sollte die Bundesregierung trotzdem ein neues Mandat beschließen wollen, werde die FDP selbstverständlich zustimmen. Das gelte auch für den Fall, dass die Zustimmung erst nach dem Einsatz eingeholt werden sollte.

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Das Land Berlin erklärt sich zur Aufnahme von Geflüchteten aus Afghanistan bereit. Gemeinsam mit anderen Bundesländern würde Berlin ein Kontingent von Flüchtlingen aufnehmen, "die sich in Afghanistan für den Aufbau der Demokratie eingesetzt haben", sagte Innensenator Andreas Geisel von der SPD dem "Tagesspiegel". Dafür seien allerdings "dringend Entscheidungen auf Bundesebene" nötig.

Zuvor hatte unter anderem Kanada zugesichert, Geflüchtete aus Afghanistan aufzunehmen. Das Land will bis zu 20.000 Menschen Schutz bieten. "Die Lage in Afghanistan ist herzzerreißend und Kanada wird nicht tatenlos zusehen", sagte Einwanderungsminister Marco Mendicino. Einige Flugzeuge mit Asylsuchenden aus Afghanistan seien bereits gestartet. Dabei soll es sich vor allem um "besonders verletzliche" Afghanen handeln wie Frauen in Führungspositionen, Regierungsmitarbeiter, Menschenrechtsaktivisten, Journalisten und Angehöriger verfolgter Minderheiten.

Quelle: ntv.de, rpe/joh/rts/AFP/dpa

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