Hauptstadt Kabul ist umstellt Taliban erobern kampflos Masar-i-Scharif
14.08.2021, 19:54 Uhr
Ein afghanischer Polizist inspiziert 2016 Trümmer in Masar-i-Sharif.
(Foto: REUTERS)
Die Taliban scheinen nicht zu stoppen zu sein: Sie kontrollieren nahezu die Hälfte aller Provinzen und erobern fast alle größeren Städte. Nun stehen sind nicht mehr weit vor der Hauptstadt Kabul. Auch der frühere Bundeswehr-Standort Masar-i-Scharif fällt.
Die Taliban haben nach Angaben eines Provinz-Vertreters und von Anwohnern die Stadt Masar-i-Scharif eingenommen. "Sie paradieren mit ihren Fahrzeugen und Motorrädern und schießen in die Luft, um zu feiern", berichtet Atiqullah Ghajor, der in der Nähe der berühmten blauen Moschee der Stadt wohnt. Anscheinend sei die Stadt kampflos gefallen, sagt der Vorsitzende des örtlichen Provinzrats, Afsal Hadid. Soldaten der Regierung seien geflohen. In Masar-i-Scharif hatte die deutsche Bundeswehr bis vor kurzem ein großes Feldlager im Camp Marmal in der Nähe des Flughafens. Dort waren bis zum Sommer noch rund 1000 deutsche Soldaten stationiert. Sie hatten zuletzt afghanische Sicherheitskräfte im Zuge der Nato-Mission "Resolute Support" ausgebildet.
Die Islamisten hatten seit rund einer Woche Masar-i-Scharif intensiv angegriffen. Immer wieder versuchten sie von mehreren Seiten, in die auch wirtschaftlich starke Metropole mit geschätzt 500.000 Einwohnern einzudringen. Gegen 21 Uhr (Ortszeit) seien sie in die Stadt eingedrungen und hätten zunächst Menschen aus dem Zentralgefängnis freigelassen. Ein großer Teil der Sicherheitskräfte hätte sich in das Camp Marmal zurückgezogen. Das 209. Armeekorps am Rande der Stadt habe laut Provinzrat Sabiullah Kakar mit den Taliban einen Deal ausgehandelt. Worin der besteht, ist unklar. Milizen des Ex-Gouverneurs Mohammad Atta Nur und des Ex-Kriegsfürsten Abdul Raschid Dostum hatten zuletzt nördlich der Stadt eine zusätzliche Verteidigungslinie zur Unterstützung der Sicherheitskräfte aufgebaut. Sie sollen nun in die Stadt Hairatan an der Grenze zu Usbekistan geflohen sein und versuchen, die Grenze zu überqueren. Andere Sicherheitskräfte würden dasselbe versuchen.
Präsident Ghani will "Frieden und Stabilität" sichern
Auf ihrem Eroberungsfeldzug haben die radikalislamischen Taliban auch die afghanische Kabul weitgehend umstellt. Demnach lagerten Taliban-Kämpfer nur noch rund 35 bis 50 Kilometer entfernt von der Hauptstadt. Trotz der Belagerung weiter Teile seines Landes durch die Islamisten zeigte sich Präsident Aschraf Ghani in einer Rede an die Nation zuversichtlich, dass auch eine Friedenslösung noch möglich sei. "Oberste Priorität" habe nun die "Remobilisierung" der afghanischen Streitkräfte. "Ich werde nicht zulassen, dass der auferlegte Krieg gegen die Bevölkerung mehr Tote fordert", ergänzte er.
Nach dem Fall der zweit- und der drittgrößten Stadt des Landes ist Kabul de facto die letzte Bastion der afghanischen Regierungstruppen, die anderswo kaum oder gar keinen Widerstand gegen die Taliban leisteten. In einer Fernsehansprache kündigte Ghani "ernsthafte Schritte" hin zu einer Remobilisierung der Sicherheits- und Streitkräfte an. Genauere Angaben zu den Plänen seiner Regierung machte Ghani nicht. Es liefen jedoch "umfassende Beratungen" mit politischen Verantwortungsträgern und internationalen Partnern über eine "politische Lösung", um Afghanistan "Frieden und Stabilität" zu sichern, versicherte der Präsident. In einer später vom Präsidentenpalast veröffentlichten Mitteilung hieß es, die Regierung werde zeitnah eine verhandlungsfähige "Delegation" einsetzen. Auch hierzu wurden zunächst keine Details bekannt.
Panik unter Geflüchteten in Kabul
Viele Bewohner von Kabul reagierten angesichts der näher rückenden Taliban panisch. Vor Banken bildeten sich lange Schlangen, einigen Filialen ging offenbar das Bargeld aus. Zehntausende Menschen waren in den vergangenen Tagen aus anderen Landesteilen nach Kabul geflüchtet, um sich vor den Islamisten in Sicherheit zu bringen. "Ich weine Tag und Nacht", sagte die 35-jährige Muschda aus der Provinz Parwan. Sie habe mehrere Heiratsanträge abgelehnt, sagte die alleinstehende Frau. "Wenn die Taliban kommen und mich zum Heiraten zwingen, werde ich mich umbringen."
Die USA hatten der afghanischen Armee am Freitag mangelnden Einsatzwillen vorgeworfen. Washington beobachte mit "großer Sorge", mit welcher Geschwindigkeit die Taliban ihre Kontrolle über Afghanistan ausbauten sowie den "Mangel an Widerstand, mit dem sie konfrontiert sind", kritisierte Pentagon-Sprecher John Kirby. Die Afghanen forderte Kirby auf, den Taliban-Angriffen mit der "politischen" und "militärischen Führung" zu begegnen, "die an der Front erforderlich sind". Gleichzeitig versicherte er, Kabul befinde sich nicht in einer "unmittelbaren Bedrohungslage".
Westliche Staaten fliegen ihre Diplomaten aus
Trotz dieser Einschätzung bereiten die USA und andere westliche Staaten wie Deutschland und Großbritannien unter Hochdruck die Ausreise ihres zivilen Personals aus Kabul vor. Zur Absicherung der Ausreise entsandte Washington Tausende zusätzliche US-Soldaten nach Kabul, die laut Kirby das Ausfliegen Tausender Menschen täglich aus Afghanistan gewährleisten sollen. Zudem veranlassten die USA die Zerstörung sensiblen Materials in ihrer Botschaft in Kabul.
Seit Beginn des vollständigen Abzugs der Nato-Truppen aus Afghanistan im Mai haben die Taliban weite Teile des Landes unter ihre Kontrolle gebracht. Seit Freitag vergangener Woche nahmen die Islamisten rund die Hälfte der 34 afghanischen Provinzhauptstädte ein, darunter zuletzt auch die zweitgrößte Stadt Kandahar. Berichte über heftige Kämpfe gab es aus dem nördlichen Masar-i-Scharif, wo die Bundeswehr zuletzt ihr größtes Feldlager hatte. Die Stadt ist das wirtschaftliche Zentrum der Region im Norden, die immer als Bollwerk gegen die Taliban galt. Der berüchtigte Kriegsherr Abdul Raschid Dostum hatte dort zuletzt seine Milizen versammelt. Die einzigen anderen größeren Städte, die noch nicht von den Taliban eingenommen wurden, waren Dschalalabad und Chost. Mit heftigem Widerstand gegen die Islamisten wurde dort aber nicht gerechnet. Am Samstag sollen die Taliban auch die wichtigen Städte Asadabad und Gardes erobert haben.
Taliban erobern Waffen und Ausrüstung
In Online-Netzwerken waren zahlreiche Fotos und Videos zu sehen, in denen Taliban-Kämpfer mit erbeutetem Kriegsmaterial posierten. Ihnen fielen demnach zahlreiche gepanzerte Fahrzeuge, schwere Waffen und andere hochwertige Ausrüstung in die Hände.
Die Taliban hatten während ihrer Herrschaft von 1996 bis 2001 eine strenge Auslegung des islamischen Rechts in Afghanistan eingeführt. Mädchen waren von Bildung, Frauen vom Arbeitsleben ausgeschlossen. Straftaten wurden mit öffentlichen Auspeitschungen oder Hinrichtungen geahndet. UN-Generalsekretär António Guterres sprach am Freitag von "entsetzlichen" Berichten über Menschenrechtsverletzungen in jenen Gebieten, die nun wieder von den Taliban kontrolliert werden.
Quelle: ntv.de, als/chr/rts/AFP