Politik

Angriff auf Wohngebäude Tragödie von Dnipro beendet kurze Phase der Ruhe

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In Dnipro dauert die Suche nach Verschütteten an.

(Foto: REUTERS)

Erneut setzt Russland eine unpräzise Rakete gegen eine dicht besiedelte Stadt ein. 40 Tote sind bisher bestätigt, die Zahl dürfte weiter steigen. Auch wenn das Wohngebäude in Dnipro nicht das Ziel der Russen war, hat der Einsatz solcher Waffen den Charakter eines Kriegsverbrechens.

Nachdem Russland die Ukraine um die Neujahrsfeiertage mit Raketen und Drohnen beschossen hatte, ließen die Luftangriffe auf die Ukraine und ihre Energieinfrastruktur für eine Weile nach. Allerdings war klar, dass eine neue schwere Angriffswelle nur eine Frage der Zeit ist. Dass es seit dem 6. Januar in Kiew keinen Luftalarm mehr gab, löste eher Besorgnis als Beruhigung aus.

Am Samstag, dem orthodoxen Neujahrsfest, war es so weit. Für die Hauptstadt begann der Schrecken des Tages früher als für den Rest des Landes: Kiew wurde am Morgen durch laute Explosionen geweckt, obwohl es zuvor keinen Luftalarm gab. Nach Angaben der ukrainischen Luftwaffe feuerten die Russen mit modernisierten Raketen des Typs S-300 oder S-400, die auch im Boden-Boden-Format eingesetzt werden können und auf die die Flugabwehr nicht schnell genug reagieren kann. Eine böse Überraschung für die Hauptstadt: Russland dürfte nicht allzu viele solcher Raketen haben, doch es trägt nicht zum Sicherheitsgefühl der Menschen bei, dass es ohne Luftalarm jederzeit zu Einschlägen kommen kann. Ob Russland von Belarus aus geschossen hat, was lange nicht mehr der Fall war, oder aus dem Bezirk Brjansk, bleibt unklar.

Später am Tag ging es mit dem üblichen Beschuss, überwiegend mit strategischen Bombern aus der Nähe des Kaspischen Meeres, weiter. Den Zahlen nach war der Angriff kleiner als viele zuvor: In der Regel schießen die Russen rund 60 Raketen los, diesmal waren es mehr als 30. Doch der angerichtete Schaden für die Energieinfrastruktur war groß. Neben Kiew gab es Einschläge in Bezirken Charkiw, Iwano-Frankiwsk, Saporischschja, Lwiw und Winnyzja. Den ukrainischen Energieversorgern zufolge gibt es nun daher ein enormes Stromdefizit. Auch einige Wärmekraftwerke sind vorerst komplett ausgefallen. Temperaturen im Plusbereich helfen immerhin, die Ausfälle etwas zu verringern.

Der Tod von Zivilisten wurde bewusst in Kauf genommen

Größer als der Infrastrukturschaden ist aber die Tragödie von Dnipro, wo eine russische Rakete in einen Wohnblock eingeschlagen ist. Bisher ist der Tod von mindestens 40 Menschen bestätigt - diese Zahl wird noch steigen. Es ist ein ähnlicher Fall wie der Beschuss eines Einkaufszentrums in Krementschuk im Juni, als mindestens 21 Menschen ums Leben kamen. In beiden Situationen setzte Russland eine alte sowjetische Rakete vom Typ Ch-22 ein, die für die Bekämpfung von Flugzeugträgern und Marineverbänden entwickelt wurde. Die Rakete ist sehr schnell, hat aber einen primitiven Radar und gilt als extrem unpräzise.

Es ist nicht davon auszugehen, dass das Einkaufszentrum in Krementschuk und das neunstöckige Wohngebäude in Dnipro die vorgesehenen Ziele der Russen waren. Der Einsatz von solchen ungenauen Waffen in der Nähe von Wohngebieten hat dennoch den Charakter eines Kriegsverbrechens, weil hier ganz bewusst der Tod von Zivilisten in Kauf genommen wurde. Ähnliches gilt für den Einsatz von älteren S-300-Raketen auf frontnahe Städte wie Saporischschja. Im Boden-Boden-Regime sind solche Flugabwehrraketen sehr unpräzise.

Verwirrung um Behauptungen von Berater Arestowytsch

Dass die Zerstörung in Dnipro nicht mit einem direkten Einschlag, sondern mit dem Abschuss der Ch-22 durch die ukrainische Flugabwehr zu tun hat, ist sehr unwahrscheinlich. Dies hatte der ehrenamtliche Berater des ukrainischen Präsidentenbüros, Oleksij Arestowytsch, in seinem YouTube-Kanal mit dem Blogger Mark Fejgin, in dem er als Privatperson auftritt, behauptet. Später erklärte Arestowytsch diese Sichtweise mit Informationen, die er von einem ehemaligen Flugabwehrsoldaten bekommen habe, der die Einschläge vor Ort in Dnipro gehört haben soll. Während Kremlsprecher Dmitrij Peskow heute indirekt auf die Worte Arestowytschs verwies, dementierte die Führung der ukrainischen Luftwaffe seine Darstellung ausdrücklich.

Tatsächlich hat die Ukraine aktuell kaum bis gar keine technischen Möglichkeiten, Ch-22-Raketen abzufangen - was sich mit der Lieferung von Patriot-Systemen ändern sollte. Keines der aktuell vorhandenen Systeme schafft es, eine derart schnelle Rakete abzuschießen. Zwar hat die ukrainische Luftwaffe im vergangenen Jahr tatsächlich den Abschuss von drei Ch-22-Raketen gemeldet. Ihr Sprecher Jurij Ihnat sprach mit Bezug auf diese Meldungen aber von "Fehlern", was durchaus wahrscheinlich ist: Bei einem Beschuss bleibt die Lage auch für die Luftwaffe unübersichtlich, erste Einschätzungen sind daher in Details meist nicht ganz genau.

Der eigentliche Skandal ist in jedem Fall der systematische Einsatz von Waffen wie Ch-22 gegen dicht bevölkerte Städte wie Dnipro und Krementschuk, der ein weiteres Mal zeigt: Die ukrainische Zivilbevölkerung ist der russischen Führung egal. Das gilt auch für die russischsprachigen Ukrainer in Charkiw, Dnipro oder Saporischschja, die ja angeblich mit der russischen "Spezialoperation" geschützt werden sollen.

Quelle: ntv.de

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