Politik

Reisners Blick auf die Front "Tritt ein Soldat aus dem Schutz heraus, wird er von Drohnen gejagt"

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Russische Soldaten in der Region Pokrowsk suchen den Himmel nach Drohnen ab.

Russische Soldaten in der Region Pokrowsk suchen den Himmel nach Drohnen ab.

(Foto: IMAGO/SNA)

Pokrowsk im Donbass steht schon lange unter Feuer, doch jetzt tobt dort der Häuserkampf. Warum die russischen Besetzer sich kaum aus der Deckung trauen und trotzdem Häuserblock für Häuserblock vorrücken, erklärt Oberst Markus Reisner ntv.de.

ntv.de: In Pokrowsk halten die ukrainischen Truppen mit letzter Kraft den russischen Angriffen stand. Nun wollen die Russen einen Black Hawk Hubschrauber abgeschossen haben, der Elitesoldaten hinter den russischen Linien absetzen sollte. Die Ukraine behauptet, das Spezialkommando sei durchgekommen. Falls ja: Könnten die das Ruder herumreißen?

Markus Reisner: Aus der Ferne lässt sich der Effekt einer solchen Aktion schwer beurteilen, allerdings kann ich keinen sehr großen militärischen Nutzen erkennen. Der Effekt dieser Aktion ist vor allem das Signal: Wir handeln aktiv, wir müssen nicht einfach ertragen, was die Russen mit uns anstellen, sondern führen frische Kräfte heran und sind noch Herr der Lage. Diese Strategie zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Krieg. Wann immer es nicht gut läuft, versucht man durch eine spektakuläre Aktion zu zeigen: Situation unter Kontrolle. Dem ukrainischen Generalstab zufolge gibt es ja auch offiziell keinerlei Einkesselungen entlang der Front.

Wie lässt sich eine solche Aussage einordnen? Viele Frontberichte klingen ganz anders und ziemlich dramatisch.

Kämpfe um Städte sind oft von extremer Brutalität geprägt und zugleich von einem langen, zermürbenden Belagerungszustand. Meist endet es damit, dass es dem Angreifer tatsächlich gelingt, die Stadt komplett einzukesseln. Also jegliche Versorgung zu unterbinden, indem man die Zufahrtswege kontrolliert. Über kurz oder lang haben die Soldaten dann keine Munition mehr und auch keine Sanitätsversorgung, und das führt zum Zusammenbruch. Diese Gefahr besteht akut in der Region Pokrowsk. Aus diesem Grund greifen die Ukrainer nördlich der Stadt und ihrem Nachbarort Rodinsky massiv an. Sie wollen die nördliche russische Zange abschneiden, die sich um die Städte herumgelegt hat, und die Einkesselung dort zumindest unterbrechen.

Russische Propaganda spricht von 9000 eingekesselten Ukrainern südlich von Pokrowsk. Ist da was dran?

Das stimmt so sicherlich nicht. Wären so viele Ukrainer eingekesselt, würde das viel höhere Wellen schlagen. Davon würden wir viel mehr erfahren. Derzeit ist die ukrainische Armee noch immer in der Lage, mit Drohnen Versorgungsgüter in die Stadt hineinzubringen. In einem gewissen Rahmen werden sogar Verwundete evakuiert, auch das passiert mit unbemannten Fahrzeugen am Boden. Das genügt aber nicht, um den Durchbruch der Russen zu verzögern, bis zum Beispiel der Gegenangriff der Ukrainer durchschlägt.

Wochenlang werden die Ukrainer das nicht mehr durchhalten können?

Definitiv nicht. Die kleinen ukrainischen Trupps, die in ihren Stützpunkten verbittert kämpfen, um den Raum ostwärts der Stadt zu halten, weichen darum zurück vor der Einkesselung. Denn sobald es den Russen gelingt, Pokrowsk bis an den nördlichen Stadtrand zu kontrollieren, wird es für Ukrainer ungeheuer schwierig, aus diesem Raum noch herauszukommen. Darum führen die Ukrainer derzeit heftige Gegenangriffe nördlich von Pokrowsk durch. Bislang, muss man allerdings sagen, haben sie es aus solch brenzligen Lagen immer noch herausgeschafft. Nur in Mariupol gelang es, mehrere 1000 Ukrainer einzukesseln.

Für die Ukrainer ist die Lage dort also brandgefährlich. Zugleich wehren sie viele russische Angriffe ab. Wie geht das konkret vor sich?

Die ukrainischen Städte sind meist von offenem Land umgeben, in dem die Russen recht schnell vorrücken können und dann versuchen, in die Stadt einzusickern. Trotz ukrainischer Drohnen wohlgemerkt, denn die russische Führung macht im Umgang mit ihren Leuten keinerlei Kompromisse. Sie hat hier im Donbass ihr Schwergewicht gebildet und setzt massiv Soldaten ein - immer in kleinen Einheiten. Ein russischer Trupp besteht oft nur aus zwei Leuten, es können auch mal zehn oder fünfzehn sein. Wird der eine Trupp vernichtet, schickt die Führung den nächsten los. Im Häuserdschungel der Stadt wird der urbane Kampf dann sehr schwierig. Denn die Ukrainer haben sich zur Verteidigung an günstigen Stellen positioniert. Pokrowsk zum Beispiel ist in der Mitte durch eine Eisenbahnlinie geteilt. Nördlich davon stehen die typischen Plattenbausiedlungen, von denen aus man sehr weit blicken kann. Aus diesen Stellungen heraus sind die Ukrainer in der Lage, immer wieder russische Trupps abzuwehren.

Denen dann ein neuer russischer Trupp folgt?

Erbarmungslos, ich wiederhole mich in diesem Punkt. Die russische Seite schickt immer wieder immer neue Soldaten nach vorn. Und dieser Umgang mit den eigenen Leuten führt am Ende zum Ergebnis: Die Russen schaffen es schließlich, Schritt für Schritt, von einer Häuserzeile zur nächsten Häuserzeile, bis zum nächsten Block zu marschieren.

Spielen im Häuserkampf auch Drohnen eine große Rolle?

Der Grund für die Entscheidung, nur in kleinen Trupps vorzustoßen, liegt genau darin: Man will nur einen möglichst kleinen Fußabdruck hinterlassen, um nicht sofort von Drohnen aufgeklärt zu werden. In früheren Konflikten konnten sich Soldaten manchmal auch frei bewegen, aber diese Zeiten sind vorbei. In dem Moment, wo der Soldat sichtbar wird, kommt die Drohne und stürzt sich auf ihn. Das gilt für beide Seiten. Auch Ukrainer, die aus dem Häuserschutz treten, werden von Drohnen gejagt. Und die Verluste sind auch auf ukrainischer Seite hoch.

Markus Reisner ist Historiker und Rechtswissenschaftler, Oberst des Generalstabs im Österreichischen Bundesheer und Leiter des Institutes für Offiziersgrundausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Wissenschaftlich arbeitet er u.a. zum Einsatz von Drohnen in der modernen Kriegsführung. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Ukraine-Front.

Markus Reisner ist Historiker und Rechtswissenschaftler, Oberst des Generalstabs im Österreichischen Bundesheer und Leiter des Institutes für Offiziersgrundausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Wissenschaftlich arbeitet er u.a. zum Einsatz von Drohnen in der modernen Kriegsführung. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Ukraine-Front.

(Foto: privat)

Stimmt dann das Verhältnis noch? Ist die Verteidigung von Pokrowsk wichtig genug, um diesen hohen Preis zu zahlen?

Ehrlicherweise müssen wir zugeben: Wir kennen die Rahmenbedingungen nicht im Detail, die einen verantwortlichen Kommandeur zu solch einer Entscheidung bewegen. Es kann sinnvoll sein, einen Raum so lange wie möglich und bei hohen Verlusten zu halten, wenn man in der Tiefe dahinter eine neue Verteidigungslinie vorbereitet, die noch nicht fertiggestellt ist. Wir wissen, dass der ukrainische Generalstab hinter Pokrowsk und Konstantinowka die neue Donbass-Linie baut. Sie ist aber noch nicht so gut ausgebaut, wie es die Linien an der Front selbst waren. Zeit zu gewinnen, indem man den russischen Vormarsch verzögert, liegt sicher im Interesse der Ukraine - einerseits.

Und andererseits?

Andererseits drängt sich der Eindruck auf, dass es keinen Sinn macht, bis zum letzten Mann zu kämpfen. Einfach, weil die russische Übermacht zu groß wird. Schlauer wäre daher vielleicht, die Kräfte bereits jetzt herauszuführen, in einer möglichst guten Ordnung. Dann wären sie in der Tiefe neu einsetzbar. Die Überlegung der Armeeführung im Hintergrund scheint aber zu sein, dass man die Russen so lange wie irgend möglich binden will, um zu verhindern, dass sie noch einen operativen Durchbruch erzielen. Das war ja Ziel der Russen im Sommer, das sie jedoch - trotz substanzieller Geländegewinne - nicht erreicht haben.

Pokrowsk könnte nun diese Trophäe werden, bevor der Winter beginnt?

Das könnte passieren. Zumal die Rasputiza, also die herbstliche Schlammperiode, derzeit die Russen kaum bremst. Schlamm behindert den Einsatz von mechanisierten Kräften, Panzer und schweres Gerät bleiben stecken. Doch die Russen greifen ja vielerorts vor allem zu Fuß an. Die haben mit Schlamm also kein Problem. Allerdings: Selbst wenn gemeldet wird, dass die Russen Pokrowsk inzwischen bereits zu 65 Prozent kontrollieren, ist die Frage: Was bedeutet Kontrolle in einer Situation, wo permanent Drohnen über den Besetzern schweben, die sich auf sie stürzen, sobald sie einen Fuß nach draußen setzen? In diesem Punkt hat die Ukraine nach wie vor genug Ressourcen, um die Russen empfindlich zu treffen. Bloß die haben den längeren Atem, so funktioniert der Abnutzungskrieg.

Darum wären weitreichende Waffen so wichtig, um der russischen Armee diesen Atem zu nehmen?

Richtig. Darum versucht die Ukraine fast schon verzweifelt, die USA zu bewegen, ihnen Tomahawk-Marschflugkörper zu liefern. Damit zusätzlicher Druck aufgebaut werden kann. Es geht nicht darum, Russland zu zerstören. Es geht darum, dass die Ukraine so massiven Druck ausüben kann, dass Russland schließlich gezwungen und bereit ist, am Verhandlungstisch Platz zu nehmen. Bis jetzt ist das nicht der Fall. Bis jetzt sieht sich Putin auf der Siegerstraße, trotz der schweren Verluste. Wären die Angriffe auf russische Infrastruktur, wären Sanktionen des Westens aber so massiv, dass ihr Erfolg an der Front messbar würde, dann würde Pokrowsk nicht kurz vor der Einnahme stehen.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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