Mehr als 5700 Gebäude sind infolge des jüngsten Bebens eingestürzt, Tausende Menschen starben in den Trümmern. Um das zu verhindern, hatte Ankara die Standards beim Bauen 2004 eigentlich angehoben - doch womöglich wurden sie nicht überall eingehalten.
Das Erbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion hat Tod und Zerstörung hinterlassen. Nach jüngsten Zahlen haben mehr als 5000 Menschen ihr Leben verloren. Zu befürchten ist, dass die tatsächliche Opferzahl noch weit höher ausfallen wird. Dass das Doppelbeben so schwer ausfiel, ist für Experten keine Überraschung. "Die Dynamik der Plattentektonik in der Gegend war bekannt", sagte Lamia Messari-Becker, Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Uni Siegen, der dpa. "Die Einschätzungen zu Erdbebenrisiken in der Türkei wurden 2013 sogar nach oben korrigiert."
Laut Messari-Becker war es nur eine Frage der Zeit, bis die Erde wieder beben würde. Dennoch sind die Schäden immens. Unter den Schock über die Ausmaße der Katastrophe mischen sich erste Fragen: War die Türkei gut genug vorbereitet auf das Unvermeidliche? Wie groß die Schäden durch ein Beben ausfallen, hängt laut Messari-Becker wesentlich von der Verletzlichkeit der betroffenen Zonen und Städte ab - von der Untergrundbeschaffenheit, der Fundamentierung und Bauweise der Gebäude. Aber auch die Bebauungsdichte spiele eine Rolle.
Nach Angaben der türkischen Katastrophenschutzbehörde Afad wurden allein in der Türkei 5775 Gebäude zerstört. Noch immer versuchen Rettungskräfte verzweifelt, in den Trümmern verschüttete Menschen zu retten. Kritiker bemängeln, dass die Schäden geringer ausgefallen wären, wenn die Bauvorschriften konsequenter umgesetzt worden wären. Seit dem letzten schweren Erdbeben im Jahr 1999 mit mehr als 18.000 Toten hatte die Türkei die Vorgaben verschärft, um die Gebäude erdbebensicherer zu machen. Doch Verstöße, so die Kritik, wurden häufig nicht geahndet.
Flughafen auf Demarkationslinie
Auch bei den Genehmigungen für Neubauprojekte hat die Regierung laut Huseyin Alan, dem Vorsitzenden der türkischen Kammer für Ingenieurgeologie, nicht auf Warnungen von Bauexperten gehört. "Keines der Ämter, weder das Präsidialamt noch die lokalen Verwaltungen, haben unseren Bericht zur Kenntnis genommen, in dem wir auf die Notwendigkeit von Bodenuntersuchungen vor dem Bau von Gebäuden hingewiesen haben", sagte Alan dem "Spiegel". "Der Flughafen Hatay zum Beispiel liegt auf einer Demarkationslinie. Das ist inakzeptabel."
Der Flughafen in Hatay, Baujahr 2007, würde für Hilfslieferungen in die Region eigentlich dringend benötigt. Er kann derzeit aber nicht genutzt werden, weil die Landebahn beschädigt ist. Videobilder zeigen einen riesigen Riss, der den Beton der Landebahn auf ganzer Breite auftürmt. Andere Flughäfen seien gesperrt oder überlastet, heißt es. Die gesamte Infrastruktur soll so stark beschädigt sein, dass selbst Hilfslieferungen teilweise nicht mehr ankommen. "Wir haben gerade in der Baubranche eine hohe Korruptionsrate in der Türkei", sagte die CDU-Politikerin Serap Güler, die selbst türkische Wurzeln hat, am Montagabend in der ARD-Sendung "Hart aber fair".
Erinnerungen ans Beben von 1999
"Auf dem Papier mögen die Bauvorschriften erdbebensicher sein", so Güler. "Aber wir haben Bilder gesehen, wo mehrere Hochhäuser nebeneinander stehen, und eins in der Mitte ist dem Erdboden gleich. Da sind wir ganz schnell bei Baupfusch." Tatsächlich erinnern die Bilder aus der Stadt Malatya, wo ein mehrstöckiges Wohngebäude während der Rettungsarbeiten einstürzte, an das Beben von 1999, als in Izmit, Yalova und Teilen Istanbuls wegen schwerer Baumängel mehr als 15.000 Gebäude in sich zusammenfielen. Ermittlungen zeigten später, dass in vielen Häusern minderwertiger Stahl und teils sogar Beton aus Meersand verbaut wurden, um Kosten zu sparen.
Zwar legte die Regierung in Ankara 2004 neue Standards für erdbebensicheres Bauen fest, doch ältere Gebäude, die nicht ohne weiteres nachgerüstet werden können, blieben ein Problem - ebenso wie die Frage, ob die Gesetze auch eingehalten wurden. Aus der Antwort kann ganz Europa Lehren ziehen, glaubt Bauingenieurin Messari-Becker. Sie fordert eine länderübergreifende Strategie zur Katastrophenvorsorge, weiter angepasste erdbebensichere Bauvorschriften und Nachrüstungen im Gebäudebestand.
Quelle: ntv.de, mit dpa