"Warum schießt ihr auf uns?" Separatistenkommandeur: 60 Prozent der Verluste durch Eigenbeschuss
08.11.2022, 10:21 Uhr (aktualisiert)
Russische Truppen tun sich anscheinend schwer, Freund und Feind zu unterscheiden.
(Foto: picture alliance/dpa/TASS)
Für Russland ziehen beim Angriff auf die Ukraine Vertragssoldaten, Reservisten, Separatisten und Söldner ins Feld. Das erschwert die Absprachen anscheinend ungemein. Ein Militärkommandeur der sogenannten Volksrepublik Donezk gibt an, dass sich die befreundeten Truppen regelmäßig gegenseitig angreifen.
Ein Großteil der russischen Verluste im Donbass ist womöglich auf Beschuss durch eigene Truppen zurückzuführen. Der Militärkommandeur der selbsternannten Volksrepublik Donezk (DNR), Alexander Chodakowski, gibt an, dass bis zu 60 Prozent der Verluste seit dem Ende der russischen Offensivoperationen in Mariupol Mitte Mai auf das Konto eigener Truppen gehen könnten. Das berichtet die US-amerikanische Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) in ihrem neuesten Lagebericht.
Die Angaben beruhen auf einem Telegram-Eintrag von Chodakowski, in dem er mehrere Beispiele nennt. Demnach ist unter anderem seine Einheit bereits mit Mörsergranaten aus den eigenen Reihen beschossen worden. Mit einem Hubschrauber habe man die Mörserbatterie ausfindig gemacht und sei dorthin gerast, schreibt Chodakowski. Nachdem die feuernde Einheit als russische identifiziert wurde, habe er gefragt: "Warum schießt ihr auf uns?". Die Antwort, die der Separatistenführer demnach erhielt, war: "Wir schießen nicht auf euch, sondern auf diesen Punkt auf der Landkarte. Das ist unsere Aufgabe und die erledigen wir."
In einem zweiten Beispiel verweist Chodakowski auf einen längeren Einsatz in einem Industriegebiet. Eines Morgens waren demnach plötzlich Minen entlang eines Weges verlegt. "Warum? Ein General gab seinen Ingenieuren den Befehl, die Front zu verminen. Das geschah innerhalb von vierundzwanzig Stunden - ohne zu fragen", schreibt der Kommandeur. "Infolgedessen wurden mehrere Männer getötet, darunter eine Panzerbesatzung mit einem Panzerkompanieführer, die zu Fuß unterwegs waren.
Aus dem Beitrag von Chodakowski geht nicht hervor, ob sich die Verlustangaben ausschließlich auf sein Einzugsgebiet in der DNR beziehen oder auf die gesamte russische Armee. Nach ukrainischen Angaben belaufen sich die russischen Verluste seit Kriegsbeginn auf mehr als 75.000 Soldaten. Russland hält sich mit Angaben zu getöteten oder verwundeten Truppen zurück.
Schlecht aufgestellte Armee
Die Militärexperten vom ISW können nicht einschätzen, ob diese Angaben stimmen und tatsächlich fast zwei Drittel der russischen Verluste auf Eigenbeschuss zurückzuführen sind. "Aber selbst, wenn diese Zahl übertrieben ist, zeigt die Tatsache, dass ein russischer Befehlshaber öffentlich über einen solch vernichtenden Indikator für die Kompetenz der russischen Streitkräfte und ihrer Stellvertreter spekuliert, welche großen Herausforderungen die russischen Truppen zu bewältigen haben", heißt es im Lagebericht der Denkfabrik.
Demnach ist der Beschuss durch eigene oder verbündete Truppen in der Regel für eine begrenzte Anzahl von Verlusten verantwortlich. Er mache aber normalerweise nicht annähernd 60 Prozent der Gesamtverluste aus, schreiben die Experten. Sollte die Zahl stimmen, deute das auf einen Mangel an Kommunikation und Koordinierung der Befehls- und Kontrollstrukturen zwischen den russischen Streitkräften hin.
Bereits seit den ersten Kriegstagen tauchen immer wieder Berichte über fehlende Ausrüstung, schlechte Kommunikation und logistische Probleme der russischen Armee auf. Nach Ansicht der Militärbeobachter des ISW dürfte sich dieser Zustand durch ständige Wechsel an der Kommandospitze, Beförderung und Mobilisierung unerfahrener Soldaten und eine zusammengewürfelte Truppe bestehend aus Vertragssoldaten, Reservisten, Separatisten und Wagner-Söldnern nicht verbessert haben.
(Dieser Artikel wurde am Sonntag, 06. November 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de, fzö/chr