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Urlaub in der Ukraine? "Kriegstourismus wollen wir nicht"

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"Wir wollen nicht, dass sich hier eine Art Kriegstourismus entwickelt, sondern die Schönheit unseres Landes zeigen", sagt die ukrainische Tourismuschefin. Das Bild zeigt Urlauber in den ukrainischen Karpaten im Sommer 2023.

"Wir wollen nicht, dass sich hier eine Art Kriegstourismus entwickelt, sondern die Schönheit unseres Landes zeigen", sagt die ukrainische Tourismuschefin. Das Bild zeigt Urlauber in den ukrainischen Karpaten im Sommer 2023.

(Foto: IMAGO/Ukrinform)

Urlaub in einem Land, das sich gegen einen Angriffskrieg verteidigen muss, dessen Fläche zu 30 Prozent vermint ist? Das klingt absurd, und natürlich gibt es aktuell kaum Tourismus in der Ukraine. Aber ein bisschen gibt es ihn eben doch, in einigen Bereichen sieht die Branche sogar positive Trends. Mariana Oleskiv, Leiterin der staatlichen Agentur für Tourismusentwicklung, gibt zu, dass dies eine schwierige Zeit ist. Aufhören will sie trotzdem nicht.

ntv.de: Nach Angaben der UNESCO hat die Ukraine durch den Krieg Russlands mehr als 19 Milliarden Dollar an Einnahmen aus Tourismus und Kultur verloren. Wie ist die aktuelle Situation der Tourismusbranche?

Mariana Oleskiv ist die Chefin der staatlichen Agentur für Tourismusentwicklung der Ukraine (SATD).

Mariana Oleskiv ist die Chefin der staatlichen Agentur für Tourismusentwicklung der Ukraine (SATD).

(Foto: privat)

Mariana Oleskiv: Ja, das sind ziemlich große Verluste. Es ist derzeit schwierig, das Ausmaß der Auswirkungen in vollem Umfang einzuschätzen, weil der Krieg noch andauert. Das liegt daran, dass der attraktivste Teil der südlichen Regionen unseres Landes, mit Städten wie Cherson, Mykolajiw und Odessa, besetzt ist. Touristischen Aktivitäten wie vor der Invasion sind dort nicht möglich. Die Zahl der Tourismusbetriebe in der Ukraine ist um 25 Prozent zurückgegangen. Zerstört wurden Hotels, Erholungszentren, Flughäfen, Bahnhöfe und Busbahnhöfe, insbesondere in den Grenzzonen zu den besetzten Gebieten.

Und doch gibt es positive Entwicklungen?

Ja, wir haben ein Wachstum in der Tourismusbranche im westlichen Teil der Ukraine festgestellt. Das liegt daran, dass es heute für viele Familien unmöglich ist, im Ausland Urlaub zu machen, da die Männer das Land nicht verlassen dürfen. Die Ukrainer wählen sicherere Regionen unseres Landes: den westlichen Teil der Ukraine, die Karpaten, den zentralen Teil von Podillien, Bukowina. Und genau dort wachsen die Unternehmen und werden neue Unterkünfte eröffnet. So haben wir im Jahr 2023 die Steuereinnahmen in der Branche im Vergleich zum Vorjahr um 32 Prozent gesteigert. Und wir sind etwa 8 Prozent davon entfernt, das Niveau von 2021 wieder zu erreichen.

Ist das ein gutes Ergebnis?

Ja, aber es ist nicht möglich, das Wachstum inflationsbereinigt zu schätzen. Dies würde ernsthaftere wissenschaftliche Untersuchungen erfordern. Aber in Griwna [der ukrainischen Währung] ausgedrückt, sehen wir ein Wachstum und eine allmähliche Rückkehr zum Vorkriegsniveau in den Gebieten der Ukraine, in denen die Tourismusindustrie tätig sein kann.

Welche Bereiche der Tourismusentwicklung sind jetzt von Bedeutung?

Auf staatlicher Ebene geht es um den Aufbau eines Managementsystems für die Branche. Es ist wichtig, ein System für die Sammlung von Daten zu haben, die verschiedenen Arten von Hotels zu registrieren und dergleichen. Damit haben wir 2020 angefangen, und wir setzen das fort, um für die Erholung nach dem Krieg gerüstet zu sein.

Es ist auch wichtig, dass die Branche nicht zum Stillstand kommt. Deshalb haben wir verschiedene Programme aufgelegt, wie Ermäßigungen für Soldaten und ihre Familien. Es gibt auch verschiedene Programme, um historische und kulturelle Attraktionen und Routen für die Ukrainer wieder zu öffnen. Viele Ukrainer mussten wegen des Krieges von einer Region in eine andere ziehen. Dort bauen sie ihr Leben auf und versuchen, ihre Nachbarschaft besser kennenzulernen.

Und was ist mit ausländischen Touristen?

Wenn Ausländer in die Ukraine kommen, passiert das in erster Linie im Rahmen humanitärer Hilfe - vom Wiederaufbau bis zur Minenräumung. Aber auch diese Ausländer übernachten in Hotels. Dieser Solidaritätstourismus trägt ebenfalls zur Entwicklung der Tourismusbranche bei. Meinungsführer und Vertreter verschiedener Branchen kommen in die Ukraine, um ihre Kollegen zu unterstützen und zur Entwicklung des Landes beizutragen.

Gibt es überhaupt eine Einreisestatistik für das Jahr 2023?

Heute werden diese Informationen von unseren Grenzschutzbeamten nicht weitergegeben. Aber 2021 waren es beispielsweise etwa 4 Millionen Touristen. Das war ein Covid-Jahr, schon damals hatten wir einen Rückgang der Ankünfte. Im Jahr 2022 waren es nur noch halb so viele. Selbst wenn wir die Zahlen für den Einreiseverkehr bekannt geben würden, wären sie nicht repräsentativ. Denn jede Einreise in die Ukraine zu Freiwilligenzwecken würde ja ebenfalls gezählt, und das spiegelt nicht das Bild des Tourismus im Land wider.

Dann reisen die meisten Ausländer zum Zwecke der Unterstützung ein?

Ja, nach den Informationen, die mir aus den von uns durchgeführten Umfragen vorliegen, ist dies die große Mehrheit.

Gibt es auch einen Militärtourismus? Kommen Menschen ins Land, die sich die Orte der russischen Kriegsverbrechen, wie Bucha oder Irpin, ansehen wollen?

Das sind Einzelfälle, soweit ich weiß. Die gängigen Reiseversicherungen sind wegen des Kriegs in der Ukraine nicht gültig. Auch das ist ein Grund, warum Touristen nicht in die Ukraine kommen. Von einem massiven Einreisetourismus können wir nicht sprechen. In der Regel geht es nur um Geschäfte, Arbeitsaufenthalte oder Unterstützung.

Die internationalen Medien sind voll von schrecklichen Bildern aus der Ukraine. Wie wollen Sie dieses Bild Image nach dem Krieg ändern?

Wir wollen nicht, dass sich hier eine Art Kriegstourismus entwickelt. Das wäre unangebracht angesichts der getöteten Zivilisten und der Soldaten, die in diesem Krieg heldenhaft gekämpft haben und gestorben sind. Im Gegenteil, wir wollen die Schönheit unseres Landes, unser kulturelles und historisches Erbe zeigen. Aber wir wollen auch an den Krieg erinnern. Deshalb arbeiten wir an zukünftigen Kriegsgedenkrouten.

Was für ein Projekt ist das?

Wir beginnen mit der Region Kiew als Pilotprojekt. Es sollte um ein tieferes Verständnis dessen gehen, was Krieg ist. Denn Krieg ist überhaupt kein Spaß. Es sollte sehr ausgewogene Routen geben, nicht nur mit entsprechenden Erzählungen, sondern auch mit einer Einführung, wie Kiew verteidigt wurde, wie die Ukrainer die russischen Truppen aus der Region vertrieben haben. Außerdem sollten die Verbrechen der Russischen Föderation in Bucha und anderen Orten in der Region Kiew gezeigt werden.

Gibt es für Ihre Arbeit ein Vorbild?

Wir können die Erfahrungen im Europa nach dem Zweiten Weltkrieg nutzen. Europa war damals auch wirtschaftlich sehr erschöpft, und es waren auch Einnahmen aus dem Tourismus, die beim Wiederaufbau halfen. Die Anziehungskraft ausländischer Touristen wird für die schnelle Erholung der Ukraine nach dem Krieg sehr wichtig sein.

Haben Sie auch internationale Kontakte?

Wir arbeiten mit der internationalen Tourismusgemeinschaft zusammen, um bestimmte Partnerschaften zu bilden, damit wir die Branche wieder aufbauen können, sobald es an der Zeit ist. Auf der ITB in Berlin hatten wir eine Kampagne mit dem Titel "Ukraine is Here". Es geht auch um die Entwicklung einer Strategie zur Erholung des Tourismus in der Zukunft, wie wir Touristen einladen, welche Botschaften wir aussenden, welche Reiseziele zuerst geöffnet werden. Um diese Strategie zu entwickeln, unterzeichnen wir derzeit schon Abkommen. Wir haben auch Vereinbarungen mit Plattformen wie Airbnb und Expedia, um Werbekampagnen auf ihren Plattformen durchzuführen, wenn Tourismus in die Ukraine wieder möglich ist.

Aber aktuell raten Sie jetzt von Reisen in die Ukraine zu touristischen Zwecken ab?

Wir halten es nicht für angemessen und wirtschaftlich gerechtfertigt, Kampagnen zur Förderung solcher Reisen zu starten. Natürlich ist ein bestimmter Teil unseres Territoriums heute sicher, weil er weit vom Kriegsgebiet entfernt ist. Im westlichen Teil der Ukraine ist immer genug Zeit, um bei einem massiven Raketenangriff in den Luftschutzkeller zu gehen. Aber die Logistik ist ziemlich kompliziert, und deshalb ist klar, dass Touristen derzeit nicht in großer Zahl in die Ukraine reisen können.

Und wenn jemand trotzdem kommen möchte?

Zunächst einmal sollte man natürlich nicht in die Gebiete fahren, die sich in der Nähe des Kriegsgebiets befinden und in denen der Beschuss in sehr kurzer Zeit erfolgt. Das sind die Städte Saporischschja, Dnipro und Charkiw, wo bei einem russischen Raketenangriff zwischen Warnung und Einschlag nur dreißig Sekunden vergehen, sodass die Menschen keine Zeit haben, in den Luftschutzkeller zu gehen. In diesen Gegenden funktionieren auch die Sirenen nicht immer. Das Geräusch, das eine solche Sirene macht, ist sehr unangenehm, vor allem, wenn man es zum ersten Mal hört. Es ist jedoch wichtig, dass man sich nicht ablenken lässt und sofort in den Schutzraum geht. Auf der Website des ukrainischen Außenministeriums findet man umfassende Informationen über alle Regeln für den Aufenthalt im Land.

Welche Perspektiven sehen Sie für den ukrainischen Tourismus nach dem Krieg?

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In der Vergangenheit haben bestimmte Krisen und Kriege die Entwicklung sogar gefördert. Kroatien zum Beispiel wurde nach zehn Jahren systematischer Arbeit nach dem Ende des Krieges zu einem erfolgreichen Tourismusland. Heute kann es schneller gehen, weil Informationen über das Internet weltweit verbreitet werden. In den ersten Jahren werden wir mit der richtigen Organisation eine sehr große Anzahl von Touristen anziehen und den Tourismus in dem Teil des Landes wiederherstellen können, der nicht vom Krieg betroffen war. Alles wird vom Ausgang des Krieges abhängen und davon, welche Art von Ukraine wir befreien. Heute sehen wir Städte in der Region Donezk, die völlig zerstört sind. Es wird viele Jahre dauern, sie wiederaufzubauen und zu entminen.

Mit Mariana Oleskiv sprach Maryna Bratchyk

Quelle: ntv.de

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