Offene Grenzen trotz Krieg Reiseagenturen werben mit Urlaub in der Ukraine
20.03.2023, 09:28 Uhr (aktualisiert)
Kein Ort für Schaulustige: Zerstörte Panzer in Lyman in der Ostukraine. Eines Tages aber sollen Kriegsschauplätze die Geschichte des Kampfes erzählen.
(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)
Trotz des russischen Angriffskrieges werben Tourismusunternehmen mit Urlaub in der Ukraine. Die Einreise ist für Ausländer per Bus und Zug grundsätzlich möglich. Selbst Touren zu den "Spuren des Krieges" soll es geben. Die ukrainische Tourismuschefin Mariana Oleskiv hält davon jedoch nichts.
Wenn sich ein Land gegen eine militärische Großmacht verteidigen muss, kann es eigentlich nicht so einfach sein, dort hinzureisen. Im Falle der Ukraine ist dem aber nicht so: Trotz der Attacken aus Russland sind die Grenzen des Landes größtenteils offen. Aus Polen, der Slowakei, Ungarn, Rumänien und der Republik Moldau ist die Einreise möglich - nur aus Russland und Belarus nicht.

Tourismuschefin Mariana Oleskiv will um ausländische Besucher erst wieder nach dem Krieg werben.
(Foto: Privat)
Flixbusse fahren zum Beispiel aus Frankfurt oder Berlin nach Kiew, Züge aus Warschau. Und das seit Kriegsbeginn fast ununterbrochen. Nur Fliegen ist nicht mehr möglich. Sogar touristische Touren werden in der Ukraine angeboten, beispielsweise über die Organisation "visitukraine.today", die auch in Kriegszeiten bei Ausländern für einen Besuch wirbt. Das Reiseportal will die Branche in schwierigen Zeiten unterstützen. Allerdings ohne Hilfe des Staates: "Wir unterstützen diese Art des Tourismus nicht", sagt die Vorsitzende der staatlichen Agentur für Tourismusentwicklung, Mariana Oleskiv, ntv.de. Sie will Urlauber aus dem Ausland erst nach dem Krieg wieder einladen und ihnen die ganze Schönheit der Ukraine näherbringen - genau wie den Kampf gegen die russischen Invasoren.
Derzeit hat ein Aufenthalt in der Ukraine natürlich nicht viel mit dem zu tun, was man unter "Urlaub machen" versteht - auch nicht im ruhigeren Westen des Landes. Der Krieg ist allgegenwärtig. Es gilt Kriegsrecht inklusive Sperrstunde. Luftalarm gibt es nicht selten im ganzen Land. Die Raketen der Russen können jeden Ort treffen, 100 Prozent Sicherheit gibt es nirgendwo. Rund 8000 Zivilisten sollen nach Zählung des UN-Kommissariats für Menschenrechte seit Beginn der Invasion getötet worden sein.
Kriegsrisiko-Versicherung und Luftalarm-App werden empfohlen
Die Hinweise für Ausländer auf der Homepage von "visitukraine.today" sind deswegen auch alles andere als gewöhnlich. Neben den "besten Winterausflügen in der Ukraine" und Städtetouren wird in einem Abschnitt der Seite erklärt, wie Ausländer der Internationalen Legion beitreten können, um für das Land zu kämpfen. Daneben empfiehlt "visitukraine.today" eine App, die über Luftalarme informiert. Das Symbol einer schusssicheren Weste weist auf das Angebot einer "Kriegsrisiko-Versicherung" hin. Wer eine solche abschließt, landet im Mailverteiler der Reiseagentur und kriegt in Werbemitteilungen beispielsweise Empfehlungen für Hotels zugeschickt, die einen Stromgenerator besitzen - damit man bei einem der vielen Ausfälle möglichst wenig im Dunkeln sitzt.
"Alle Gewinne aus dem Verkauf der Touren kommen ukrainischen Flüchtlingen zugute", heißt es bei "visitukraine.today". Wer sich also trotz aller schlimmen Umstände zu einer Reise in die Ukraine entschließt und über die Organisation eine Tour bucht, der tut laut deren Aussage auch etwas Gutes - und unterstützt zudem die gebeutelte einheimische Tourismusbranche. Einst reisten Millionen von ausländischen Urlaubern in das Land. Die Frage, ob man solch einen Urlaub machen sollte, nur weil man es kann, ist eine andere. Der Staat um Tourismuschefin Oleskiv lädt dazu wegen des Krieges ausdrücklich nicht ein.
"visitukraine.today" hat auch sehr spezielle Touren gelistet: "Wir haben erkannt, dass mitfühlende Menschen das Bedürfnis haben, die Spuren des Krieges mit ihren eigenen Augen zu sehen", sagte CEO Anton Taranenko im August vergangenen Jahres. Darunter fallen auch Touren zu "mutigen Städten", die einst von den Russen besetzt waren. Denn: "Wir müssen die Weltgemeinschaft über die tragischen Ereignisse informieren, die sich leider in der zivilisierten Welt des 21. Jahrhunderts zugetragen haben." Aktuell werden diese Touren allerdings online nicht für Touristen angeboten, sondern nur für Journalisten, offizielle Delegationen und Diplomaten.
Die Organisation nimmt laut eigenen Angaben Rücksicht auf ethische Aspekte. Es sei ein schmaler Grat zwischen Missbrauch der Einheimischen durch Zur-Schau-Stellen und dem finanziellen Profit, den der Tourismus bringt, sagte Harald Friedl von der FH Joanneum, der sich mit Ethik im Tourismus beschäftigt, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Wichtig ist, dass man sich am Leid der anderen, an der persönlichen Tragödie, nicht ergötzen darf."
Patronen als Souvenirs

Ein zerstörter Panzer mit einem Graffiti mit der Aufschrift "Minen". Viele der von der russischen Armee zurückgelassenen Fahrzeuge, Waffen und Landstriche wurden mit Sprengstoff vermint.
(Foto: picture alliance/dpa/ZUMA Press Wire)
Hartnäckig halten sich dennoch Gerüchte über ausländische Kriegstouristen. Tatsächlich kann es vorkommen, dass ukrainische Grenzsoldaten Ausländer bei der Ausreisekontrolle herausziehen und fragen, ob man "Souvenirs" dabeihabe, zum Beispiel Patronenhülsen. Laut Tourismuschefin Oleskiv sei diese fragwürdige Form des Eventtourismus aber eigentlich nur schwer möglich: "Vielleicht war das zu Beginn der Invasion der Fall, aber mir ist nichts davon bekannt."
Es sei fast unmöglich, an die Frontlinie zu gelangen. Jeder werde sehr gründlich kontrolliert. Auch über mögliche Todesfälle von Kriegstouristen sei ihr nichts bekannt. "Ich möchte betonen, dass die Sicherheit das Wichtigste ist. Als Regierungsbehörde empfehlen wir Ausländern nicht, eines der ukrainischen Reiseziele zu besuchen, wenn ein Krieg im Gange ist. Wir empfehlen jedoch, die Ukraine auf ihre künftige Reiseliste zu setzen, denn es ist ein wunderschönes Land, in dem es sehr sicher war, bis Russland diesen Krieg begann."
Ausflüge in die Nähe der Frontlinie im Osten hält die Tourismuschefin für "Blasphemie". Ebenso wie Reisen, die auf "menschlichem Leid" aufbauten. Damit gemeint sind Touren, die sensationslüsternen Besuchern lediglich die Zerstörung durch den Krieg zeigen. "Jetzt geht es in erster Linie darum, den Menschen zu helfen, die alles verloren haben. Sie zu unterstützen. Wiederaufbau. Entschädigung. Aber ganz sicher nicht, um für Geld Ausflüge an Orte zu unternehmen, die voll menschlichem Schmerz sind. Für mich sind das rote Linien, die nicht überschritten werden sollten."
Zwei Millionen "Besucher" aus dem Ausland 2022
Im Westen der Ukraine sei jedoch eine "gut ausgebaute touristische Infrastruktur" vorhanden. Mit Skigebieten, Hotels und medizinische Zentren, die auch genutzt werden. Laut Oleskiv soll es überall ausländische Besucher geben, wenn auch nur wenige. "Aber kann man sie als Kriegstouristen bezeichnen?", fragt sie. "In der Ukraine herrscht Krieg, und trotzdem befinden diese Menschen sich in einem relativ sicheren Gebiet."
Es gibt zahlreiche Spa-Resorts, Erkundungstouren durch historische Städte wie Lwiw oder in den Nationalpark Synewyr mit dem gleichnamigen See im beliebten Wandergebiet der Karpaten. Hotels lassen sich überall im Land über Onlineportale buchen. Ob Lwiw oder Kiew, die Preise sind moderat bis günstig im Vergleich zu Westeuropa. Es sind keine Preisexplosionen zu erkennen. Selbst in einer vor wenigen Monaten erst befreiten Stadt wie Cherson gibt es Hotel-Angebote zu günstigen Preisen. Die Einreise in die Ukraine ist mit einem deutschen Pass kein Problem, bei einem Aufenthalt bis zu 90 Tagen ist kein Visum nötig.
2022 sollen laut Oleskiv über zwei Millionen Ausländer die Grenze zur Ukraine überquert haben. Eine beträchtliche Zahl für ein Land, in dem einen jederzeit eine Rakete treffen kann. Im Corona-Jahr 2021 waren es doppelt so viele. 2019 - vor der Pandemie - 14 Millionen. Die meisten Besucher im vergangenen Jahr seien allerdings keine Touristen im herkömmlichen Sinne gewesen: "Natürlich können Menschen auch während des Krieges in die Ukraine kommen, und viele Politiker, Freiwillige und Vertreter internationaler Organisationen reisen in die Ukraine. Manche Leute kommen aus geschäftlichen Gründen oder zur medizinischen Behandlung. Ich habe ein paar Ausländer in den Skigebieten gesehen", sagt Oleskiv zu ntv.de.
Werbekampagnen, um in die Ukraine einzuladen, führe sie aber nicht durch - wegen der Raketenangriffe auf dem gesamten Territorium. Die meisten Menschen, die seit Invasionsbeginn touristische Angebote wahrnehmen, sind Einheimische. Für das ausländische Publikum hingegen plant Oleskiv für die Zeit nach dem Krieg: "Wir glauben, dass nach unserem Sieg Millionen von Ausländern in die Ukraine kommen werden, um das Land zu sehen, in dem die moderne Geschichte Europas geschrieben wird. In Zukunft wird der Tourismus eines der wichtigsten Instrumente sein, um die Rolle der Ukraine im globalen Weltgefüge zu verstehen, wahrzunehmen und zu akzeptieren."
(Dieser Artikel wurde am Sonntag, 19. März 2023 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de