Experte Lintl zur UN-Resolution "Waffenstillstand jetzt wäre ein Sieg der Hamas"
02.11.2023, 20:59 Uhr Artikel anhören
Der Norden Gazas unter israelischem Raketenbeschuss.
(Foto: IMAGO/Agencia EFE)
120 Länder unterstützen die UN-Forderung nach einem Ende der Kämpfe in Gaza. Doch würde damit eine Zerschlagung der Hamas unmöglich, die Israel mit weiteren Massakern droht. Gibt es einen anderen Weg als Krieg, um Israels Existenz zu sichern? Eine Antwort gibt Nahost-Experte Peter Lintl ntv.de.
ntv.de: In einer UN-Resolution fordern 120 Länder einen dauerhaften Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas. Dauerhaft heißt: ein Ende der Kampfhandlungen. Was würde das zum jetzigen Zeitpunkt bedeuten?
Peter Lintl: Um das zu ermessen, sollten wir vorher einen wichtigen Punkt betrachten: Warum führen die Israelis diesen Krieg? Ich glaube, das ist die Ausgangsfrage. Dieser Krieg wird geführt, weil für fast alle Israelis klar ist: Nach diesem monströsen Terroranschlag, der bewusst mit dieser Brutalität und Gewalt geführt wurde, gibt es keinen anderen Weg, um sicherzustellen, dass die Hamas ein solches Massaker nie wieder anrichten kann.
Was hat der Anschlag mit dem Land gemacht?
Der Staat Israel wurde 1948 maßgeblich vor dem Hintergrund des Holocaust und Antisemitismus gegründet, um ein sicherer Hafen für alle Jüdinnen und Juden weltweit zu sein. Diese Überzeugung wurde durch den Anschlag erschüttert. Auch ist Israel ein kleines Land. Jeder Israeli ist in irgendeiner Form durch die Gräueltaten getroffen und verletzt worden.
Der Arbeitskollege eines Bekannten von mir ist als Geisel in den Händen der Hamas. Der Terror scheint ganz nah. Meinen Sie das?
Genau das meine ich. Viele Israelis sind in Trauer und Angst um Angehörige oder Freunde. Der Anschlag bringt auch die Traumata des Holocaust wieder zurück. Wenn dann noch Teile der Welt sagen, diese monströsen Attacken seien die logische Konsequenz aus der Besatzung, und das Massaker nicht verurteilen, dann fühlen sich die Israelis von der Welt verlassen. Sie haben das Gefühl, dass niemand sieht, niemand versteht, was die Hamas dem Land angetan hat.

Der Politologe Peter Lintl studierte und forschte unter anderem in Haifa und Tel Aviv. Bei der Stiftung Wissenschaft und Politik leitet er ein Forschungsprojekt zur israelischen Sicherheitspolitik.
(Foto: SWP)
Der Krieg ist Israels einzig mögliche Konsequenz?
In Israel ist die Meinung dazu weitgehend einhellig: Ein solcher Anschlag darf sich niemals wiederholen. Und klar ist auch: Die bisherige Strategie, die Hamas einzudämmen, aber nicht zu zerstören, mit ihr also umzugehen, ist gescheitert. Für die Israelis gibt es gerade emotional, aber auch strategisch keine andere Option, als die Hamas handlungsunfähig zu machen. Das bedingt diesen Krieg. Das ist die eine Seite.
Die andere ist der Preis, den die palästinensische Bevölkerung dafür zahlt?
Der Krieg ist jetzt schon extrem blutig, mit sehr hohen Todeszahlen. Zwar zunächst auf israelischer Seite, aber jetzt auch auf palästinensischer Seite. Dazu kommen mehrere 100.000 Geflüchtete und eine drohende humanitäre Katastrophe. Gleichzeitig ist für die Israelis dieser Krieg extrem schwierig zu führen. Die Hamas verschanzt sich hinter ihrer eigenen Bevölkerung und baut ihre Tunnelsysteme unter Krankenhäusern und Moscheen. Die Hamas preist diese Toten auch ein, sie weiß, dass ein solcher Krieg einen hohen Blutzoll fordern wird und dass die internationale Meinung irgendwann kippt. Die Frage, die sich nun alle stellen, lautet: Wie viele Opfer darf dieser Krieg kosten? Wann ist die Verhältnismäßigkeit nicht mehr gegeben? Aber wie soll man diese Frage beantworten?
120 Länder, darunter EU-Staaten wie Spanien und Frankreich, sagen mit ihrer Resolution: Kein einziges Opfer mehr, jetzt sofort! Wird dieser Druck noch steigen?
Sicherlich, je länger der Krieg dauert, desto mehr Druck wird Israel international bekommen.
Warum schlägt die Resolution nicht vor, wie Israel die Hamas ohne Krieg unschädlich machen kann?
Weil das offensichtlich nicht im Interesse dieser Resolution war. Natürlich ist es von hervorgehobener Bedeutung das Augenmerk auf die humanitäre Situation im Gazastreifen zu lenken. Aber weder hat sie die Gewalttaten der Hamas angeführt, noch hat sie adressiert, wie es eine Möglichkeit geben könnte, die Hamas auch ohne Krieg von der Macht zu entfernen. Es gibt aber wohl auch keine andere Möglichkeit. Und das wusste die Hamas. Sie hat es darauf angelegt. Die Brutalität ihres Anschlags war ein Mittel, um die Israelis in den Gazastreifen zu locken. Weil die Terroristen wohl wussten, dass Israel nach diesem Terror kaum eine andere Möglichkeit haben würde.
Das heißt, die UN-Resolution fordert von Israel, dass sie den Kampf einstellt und somit die Hamas bestehen lässt?
Eine Einstellung des Kampfes zum jetzigen Zeitpunkt würde das bedeuten. Es wäre im Prinzip ein Sieg für die Hamas. Zugleich müssen wir die Opferzahlen in Gaza mitbetrachten, die Unicef meldet hunderte Tote Kinder - also klare Nichtkombattanten. Sehr kritisch zu sehen ist auch die Behauptung eines Sprechers der israelischen Armee aus den letzten Tagen, alle Menschen - bis zu 300.000 - , die sich jetzt noch im Norden des Gazastreifens befinden, seien selbst verantwortlich für ihre Lage und legitime militärische Ziele. Israel muss alles tun, was möglich ist, um Zivilisten zu schonen und auch humanitäre Hilfe zuzulassen. Vor allem die USA sind diesbezüglich immer permanenten Gespräch mit Israel.
Nach dem gescheiterten Kampf gegen die Taliban in Afghanistan wurde deutlich: Wer sich in einen Krieg begibt, sollte wissen, wie die Zukunft danach aussehen soll. Netanjahus Ex-Sicherheitsberater Yakoov Amidror skizziert sie so: Israel greift an, wann immer die Hamas sich regt. Die Grenze wird in Gaza durch ein breites Niemandsland gesichert. Ansonsten fühlt sich Israel für nichts mehr verantwortlich. In allen humanitären Belangen möge sich Gaza an die ägyptischen Nachbarn wenden. Ist das vorstellbar?
Der israelische Verteidigungsminister teilt den Krieg in drei Phasen ein: Zunächst die Zerschlagung von terroristischer Infrastruktur, in der zweiten Phase das Suchen nach versteckten Hamaskämpfern, die sich irgendwo versteckt halten. Die dritte Phase wäre die Einrichtung eines neuen Sicherheitsregimes, das ohne Hamas auskommt, mit dem Israel aber nichts mehr zu tun haben wird. Dazu gibt es verschiedene Szenarien, die jüngst auch von US-Außenminister Blinken adressiert wurden. Als das vielleicht wahrscheinlichste erscheint derzeit eine Art Übergangsregime: internationale Truppen, vielleicht arabische Truppen, die den Gazastreifen erstmal kontrollieren und Wiederaufbau beginnen würden, aber relativ zeitnah die Kontrolle an eine palästinensische Autonomiebehörde übergeben.
Welche Hürden stehen einer solchen Lösung im Weg?
Erstens müsste der Krieg beendet sein. Zweite Voraussetzung wäre ein Mandat des UN-Sicherheitsrates. Ob das gelingen würde - mit den Stimmen Russlands und Chinas -, ist fraglich. Drittens bräuchte es unbedingt eine politische Vision für die Palästinenser, ansonsten wäre das ja nur eine Besatzung von dritter Stelle. Ohne diese Vision würde kein Staat Truppen senden, und sie würden auch von den Palästinensern nicht akzeptiert werden. Aber man kann die politische Macht in Gaza nicht einfach sofort an die palästinensische Autonomiebehörde (PA) übergeben. Wenn diese im Rücken israelischer Panzer in Gaza an die Macht käme, würde sie wie eine Verbündete Israels wirken.
Bei all diesen Hürden: Sehen Sie dennoch eine realistische Chance?
Dieses Szenario, eine Kombination internationaler Truppen und der PA, ist eine der glaubwürdigeren Visionen. Meines Erachtens diskutieren die USA gerade mit Israel sehr viel über Exit-Strategien, Zukunftspläne, und wie eine politische Vision für Gaza aussehen könnte. Für die Israelis ist das im Moment sehr schwierig vor dem Hintergrund, dass die Terrorangriffe noch frisch sind und das Vertrauen, das eine politische Lösung fordert, komplett zerstört ist.
Premier Netanjahu zeigte im September vor den UN eine Karte des "Neuen Nahen Ostens". Auf dieser Karte waren alle palästinensischen Gebiete Israel zugerechnet. Den Gazastreifen gab es nicht mehr. Ist mit dieser Regierung palästinensische Unabhängigkeit überhaupt zu erreichen?
Bis man mit Oppositionspolitiker Benny Gantz eine Notstandsregierung gebildet hat, war Netanjahus Koalition die rechteste Regierung aller Zeiten in Israel. Das muss man sehen. Sie lehnte jede politische Vision für die Palästinenser ab, die irgendwie Unabhängigkeit und palästinensische Selbstbestimmung bedeutet hätte. Andererseits wollen die Israelis den Gazastreifen aber nicht besetzen. Auch wenn das emotional sehr schwer fallen wird, und mit dieser israelischen Regierung vielleicht unmöglich sein wird, gibt es kaum eine Alternative zu einer politischen Vision. Ohne diese wird es keine stabile Lösung für den Gazastreifen geben.
Mit Peter Lintl sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de